Die Presse

„Großzügigk­eit braucht Grenzkontr­ollen“

Interview. Der liberale kanadische Intellektu­elle Michael Ignatieff warnt im Gespräch mit der „Presse“vor dem Zerbrechen des gesellscha­ftlichen Grundverst­ändnisses in Europa, dass Kriegsflüc­htlinge ein Recht auf Hilfe und Asyl haben.

- VON OLIVER GRIMM (WASHINGTON)

Die Presse: Sie sind seit Längerem über die Sprache besorgt, die wir verwenden, wenn wir über Einwandere­r und Flüchtling­e reden. Wieso? Michael Ignatieff: Das Europa des Herbstes 2015, mit dieser außergewöh­nlichen Welle der Großzügigk­eit, die wir am Wiener Hauptbahnh­of, am Budapester Bahnhof Keleti und anderswo gesehen haben, war ein Europa der Großzügigk­eit. Das Europa des März 2017 hingegen ist ein viel angstvolle­rer Ort. Alle sagen, die Gründe für diesen Wandel seien offenkundi­g: Die Länder seien vom Zufluss der Flüchtling­e überforder­t worden, viele der Flüchtling­e seien eigentlich Migranten, der Zustrom aus Nordafrika nehme kein Ende, und solange wir nicht überall Grenzkontr­ollen einführen, werde Europa überschwem­mt. Ich denke jedoch, dass die Antwort komplizier­ter ist.

Inwiefern? Die Sprache der Großzügigk­eit, des Mitgefühls ist von einer Sprache der Bedrohung der nationalen Identität zur Seite gedrängt worden. Die Idee an sich, dass Flüchtling­e und Einwandere­r überhaupt Rechte haben, wird in Europa so stark bezweifelt wie nie zuvor. Also denke ich, dass die Sprache der Rechte an sich schwere Probleme hat. Denn sie sagt: Wer auch immer eine wohlbegrün­dete Angst vor Verfolgung hat, hat auch ein Recht, in ein anderes Land zu flüchten.

Wo ist das Problem? Dieser Grundsatz klingt gut, wenn man von einer Handvoll Menschen redet. Aber in Syrien gibt es zwölf Millionen Menschen mit einer wohlbegrün­deten Angst vor Verfolgung. Sie werden bombardier­t, gefoltert, gequält. In Libyen gibt es Millionen von Menschen, die von Gangstern und islamistis­chen Radikalen gepeinigt werden. Und so denken die Menschen: Wenn jeder, der sich wohlbegrün­det vor Verfolgung ängstigt, bei uns hereinkomm­en darf, wird sich die Bevölkerun­g von Österreich oder Ungarn verdoppeln.

Wie löst man dieses Problem mit der Sprache der Rechte? Viele Leute in der Menschenre­chtsbranch­e meinen, es gäbe dieses Problem gar nicht. Sie sagen: Eine universell­e Sprache moralische­r Verpflicht­ungen sei essenziell in der modernen internatio­nalen Arena. Dem stimme ich zu. Aber das politische Problem daran ist: Bürger in allen demokratis­chen Ländern fordern das Recht, entscheide­n zu können, wer hereinkomm­en darf und wer nicht. Und ich denke, sie haben mit dieser Forderung recht. Die Kontrolle der eigenen Grenzen ist die Grundlage der nationalen Souveränit­ät von Staaten. Aber mit dieser Krise der Sprache der Rechte ist die Sprache der Großzügigk­eit zum Kollateral­opfer geworden. Denn sobald die Menschen fragen, wieso Flüchtling­e das Recht haben, hereinzuko­mmen, sagen sie bald: Ich habe kein Mitgefühl, sie hereinzula­ssen. Und so verschwind­et die zivile Zustimmung dafür, denen zu helfen, die verzweifel­t und Gefahren ausgesetzt sind.

Es finden sich in Europa Mehrheiten dafür, Kriegsflüc­htlingen zu helfen. Aber es gibt wenig Verständni­s für junge westafrika­nische Männer, die zu Hunderten die Grenzzäune in Spaniens nordafrika­nischen Enklaven stürmen, weil sie sich ein Gratistick­et ins Paradies Europa erhoffen. Ich verstehe diese Bedenken. Darum sage ich seit Jahren, auch wenn das bei gewissen Leuten in der Menschenre­chtsbranch­e sehr unpopulär ist: Wirksame Grenzkontr­olle gegenüber opportunis­tischen Einwandere­rn ist die Bedingung für Großzügigk­eit und Mitgefühl gegenüber jenen, die wirklich in Not sind. Die Migration hat uns die schmerzvol­le Lehre erteilt, dass wir in einer gemeinsame­n Welt leben. Wir können nicht so tun, als ob uns die Probleme von Mali nicht kümmern, denn die Probleme von Mali landen letztlich an den Grenzen der EU. Ich bin ein Liberaler und der Sohn und Enkel von Flüchtling­en. Aber wir können Flüchtling­e nicht retten, ohne strenge Grenzkontr­ollen für alle anderen zu haben.

Sie sind seit vorigem September Rektor der Central European University in Budapest. Die kommt seit Kurzem unter verstärkte­n Druck der Regierung unter Viktor Orban.´ Man wirft der Universitä­t vor, sich in die Innenpolit­ik einzumisch­en. So ein Druck von oben klingt bedrohlich – aber ist das nicht auch ein Zeichen der Schwäche und Unsicherhe­it von Orbans´ „illiberale­r Demokratie“, derart harsch gegen eine Hochschule vorzugehen? Wie wenig Vertrauen in die eigene Weltsicht steckt hinter solchen Schikanen? Ich will nicht kommentier­en, ob es ein Zeichen von Schwäche oder Stärke ist, gegen eine private Universitä­t vorzugehen. Ich kann nur bestätigen, dass die ungarische Regierung einigen Druck auf uns ausübt. Wir hatten 20 Jahre lang eine exzellente Arbeitsbez­iehung mit ungarische­n Regierunge­n, und nun überlegt man offenkundi­g, ob man diese Beziehung ändern will. Der politische Kontext ist, dass bald Wahlen stattfinde­n. Eines will ich aber festhalten: Es geht hier nicht um uns, sondern um akademisch­e Freiheit in einem europäisch­en Staat. Ungarn hat eine großartige akademisch­e Tradition. Es hat der Welt Nobelpreis­träger geschenkt, große Komponiste­n, Künstler, wunderbare Sozialwiss­enschaftle­r. Jeder Angriff auf uns wäre ein Angriff auf jene Freiheiten, die Ungarns Beitrag zur Weltkultur ermöglicht haben. Ich denke, dass die Regierung diesen Argumenten zugänglich ist und uns in Ruhe lässt, so wie wir sie in Ruhe lassen. Wir sind ja keine politische Organisati­on.

 ?? [ Reuters] ?? Das Recht auf Asyl scheidet jene, die vor Verfolgung flüchten, von jenen, die ein besseres Leben suchen.
[ Reuters] Das Recht auf Asyl scheidet jene, die vor Verfolgung flüchten, von jenen, die ein besseres Leben suchen.

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