Zwischen Traumtour und Horrortrip
Streamingtipps. Seit es das Kino gibt, dient es als Urlaubsersatz – und zuweilen machen Filme das Reisen selbst zum Thema, wie Michael Glawoggers „Untitled“. Zum Start dieses Abschiedswerks empfiehlt „Die Presse“fünf Ausflüge.
„There is a pleasure in the pathless woods / there is a rapture on the lonely shore / there is society, where none intrudes / by the deep Sea, and music in its roar / I love not Man the less, but Nature more“. Dieses Zitat aus einem Gedicht von Lord Byron eröffnet „Into the Wild“, Sean Penns Ballade über die Aussteigerlegende Christopher McCandless, der mit 22 sein Vermögen spendete, seine Papiere verbrannte, in einen gelben Datsun stieg und als „Alexander Supertramp“auf Reisen ging – ins Ungewisse der Weiten Amerikas, immer dem Herzen nach, mit Alaska als gelobtem Land. Penn porträtiert ihn als Idealisten, der Jack London und Thoreau nacheifert, sich aber letztlich doch als Egoist erweist: Seine Suche nach absoluter Freiheit und Unabhängigkeit ist nur eine gegenkulturelle Variation des amerikanischen Traums, die auf einem tief sitzenden Trauma fußt und den Wert der Gemeinschaft verkennt. Doch solange McCandless (verkörpert von Emile Hirsch) träumt, nimmt der Film ihn ernst, und bettet seine episodischen Abenteuer in ein berückendes USA-Panorama voller sympathischer Zufallsbekanntschaften (besonders toll: Hal Holbrook als alternder Veteran) und erhabener Landschaftsaufnahmen, die den Zuschauer zu sich zu rufen scheinen. Von allen Cormac-McCarthy-Verfilmungen fängt John Hillcoats „The Road“die existentialistische Atmosphäre der Romane des Kultautors am besten ein: Er transformiert seine mystisch-abstrakte Prosa in ein reduziertes, staubtrockenes und aschfahles Genrestück über eine Reise ohne Ziel. Ein Vater (famos: Viggo Mortensen) und sein kleiner Sohn streifen nach einer nicht näher definierten Apokalypse durch das amerikanische Ödland. Die dünne Schicht der Zivilisation ist längst abgefallen, im Angesicht von Tod und Grausamkeit bleibt nur der familiäre Zusammenhalt, und selbst der ist womöglich eine Illusion: Gegen diesen Gewaltmarsch wirkt „The Walking Dead“wie ein Sonntagsspaziergang. Der Monomythos der Heldenreise zählt zu den bewährtesten Handlungsschablonen des Hollywoodkinos. Manche behaupten sogar, es gäbe überhaupt keinen Film, dem keine Heldenreise zugrunde liegt. Das ist Drehbuchdoktor-Mumpitz, doch originelle Laufbildodysseen sind tatsächlich eine Seltenheit. In ihrem Hit „Findet Nemo“nahm das Animationsstudio Pixar die Reise in Heldenreise wörtlich – und schaffte es trotzdem, das altbackene Handlungsmuster neu zu beleben. Ein Clownfisch-Papa sucht seinen Sohn in den bunten Wunderwelten des Great Barrier Reefs und findet dabei neue Freunde – etwa die vergessliche Dory, deren Spin-off den Kassenerfolg des Originals sogar noch toppen konnte. „Hostel“sorgte nach seiner Veröffentlichung für einigen Aufruhr im Horrorsektor – und wurde flugs in die „Torture Porn“-Schublade geschoben, unmittelbar neben „Saw“. Heute ist klar, wie sehr man dem Film mit diesem reduktiven Label Unrecht getan hat: Statt wie behauptet eine bloße Gewaltfantasie zu bieten, spielt er geschickt (und teilweise auch humorvoll) mit Genreklischees und ist somit viel näher an Tarantino als an seinen Exploitation-Vorbildern. Drei US-Backpacker tappen in der Slowakei in eine tödliche Touristenfalle: Die Angst vor dem Fremden, namentlich vor den imaginierten Abgründen eines „rückständigen“Osteuropas, wird hier lustvoll bedient – und im selben Moment hinterfragt. Bei der Diagonale 2013 errang Bernadette Weigels Reisetagebuch „Fahrtwind“den Hauptpreis des Dokumentarfilmwettbewerbs. In der Jury saß damals auch der 2014 im Zuge von Dreharbeiten tragisch verunglückte Ausnahmefilmer Michael Glawogger, der die Regisseurin bei der Verleihung dafür lobte, mit unbedarftem Blick in die Welt hinausgezogen zu sein: „Und es beginnt das Herz, Schönheit zu schauen“, sagte er. Tatsächlich wirkt „Fahrtwind“wie die Schmalspurversion von Glawoggers posthum fertiggestelltem Herzensprojekt „Untitled“, das Ende nächster Woche endlich in den heimischen Kinos anläuft – und das ist keineswegs abschätzig gemeint. Schmaler ist der sachte flirrende Film erst mal in Bezug auf das körnige Super-8-Filmformat. Aber auch die Kreise, die er zieht, wirken bescheidener – Weigel reiste per Bus, Schiff und Bahn von Rumänien bis Kasachstan, wechselte nie den Kontinent. Beide lassen sich von ihrer Intuition leiten, doch wo Glawoggers Schaulust offen ist für alles, was ihr zufällt, wirft Weigl eher zaghaft-zärtliche, intime Blicke auf Unscheinbares, lässt die behutsam nachsynchronisierten Landschafts- und Menschenbilder wie Wolken vorüberdriften. Ein Film wie ein wohliger Tagtraum.