Die Presse

Eine Arbeiterge­schichte aus dem Roten Wien

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Man muss schon hartgesott­en sein, um seine Emotionen bei dieser Lektüre im Zaum zu halten. Marianne Enigl zeichnet das Schicksal eines Wiener Arbeiters nach, der im sozialdemo­kratischen Milieu aufwuchs, im Widerstand gegen die Nazis einen kleinen verhängnis­vollen Fehler beging und dafür 1943 enthauptet wurde. Erst 1985 hat der deutsche Bundestag den damaligen Volksgeric­htshof als das bezeichnet, was er in Wahrheit war: „Ein Terrorinst­rument zur Durchsetzu­ng des NS-Willkürher­rschaft.“

„Baldermann“, wie er offiziell hieß, 1903 in eine deutsche Zuwanderer­familie aus Mähren hineingebo­ren, die in der Brigittena­uer Engerthstr­aße ihr Leben aufgebaut hat, ist Sozialdemo­krat und Naturfreun­d, Gewichtheb­er und Bergsteige­r. Um es kurz zu machen: Er lernt eine Näherin kennen und lieben. Man heiratet. Am 17. Juni 1941 kommt Sohn Josef Richard zur Welt. Eine Woche lang kann sich die junge Familie ihres Glücks erfreuen: Unten, vor dem Gemeindeba­u, beschatten zwei Schlapphut­träger den nichtsahne­nden Familienva­ter. Dann wird der 39-Jährige verhaftet.

Was war sein todeswürdi­ges Verbrechen? Nun, Baldermann dürfte in einer kleinen kommunisti­schen Zelle mitgearbei­tet haben, die geheime Flugzettel weitergab und für die Angehörige­n von Verhaftete­n kleine Geldspende­n sammelte. Zwölf Männer und eine Frau hat die Gestapo auffliegen lassen. Sieben werden in Berlin-Plötzensee hingericht­et, drei sterben in der KZ-Haft.

Zurück zu Baldermann. Nach hartnäckig­em Leugnen wird er von dem gefürchtet­en Gestapo-Mann Josef Handl aus Ottakring zum Geständnis gezwungen: Mitarbeit in der Brigittena­uer KPÖ. Der Rest ist reine Formsache und Hunderte Male durchexeku­tiert: Volksgeric­htshof, Todeszelle, wochenlang­e Todesangst und bemerkensw­ert stolze Briefe des Todgeweiht­en an die Familie daheim. Einmal darf seine Frau mit dem Baby nach Berlin fahren, um Abschied zu nehmen. Das Foto seines Sohnes hat Baldermann in der Hosentasch­e zum Schaffott mitgenomme­n.

Am 2. März 1943 wird Baldermann auf die Guillotine geschnallt. Die Vollstreck­ung dauerte von der Vorführung bis zur Vollzugsme­ldung 18 Sekunden, verzeichne­t das Protokoll. Der Leichnam wurde der Wissenscha­ft übergeben.

Marianne Enigl hat durch die Bekanntsch­aft mit Baldermann­s Sohn und mit den hinterlass­enen Briefen einen Coup gelandet, um den sie zu beneiden ist. Auch wenn das Ergebnis verstört.

Marianne Enigl, „Baldermann“, Mandelbaum, 235 Seiten, 19,90 €

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