Die Presse

Schläge, die den Schmerz beenden

Die Kreuzigung war als endlose Quälerei angelegt. Ein harter Schnitt konnte das Leiden abkürzen.

- VON JOSEF STEINER Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentlic­hes Rundschrei­ben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskr­äfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt. debatte@diepresse.com

Als der Lehrer Schlomos von Karlin, Rabbi Ahron von Kalisch, starb, wollte er nicht dessen Nachfolge als Rabbi übernehmen. Da erschien ihm – so geht die Sage – im Traum sein Lehrer und versprach ihm, wenn er den Dienst der Führung und Verantwort­ung übernehme, die Gabe, in die Tiefe der Seele der Menschen zu sehen, die Schicksale derer, die bei ihm Rat und Hilfe suchten, klar vor Augen zu haben und ganz mit ihnen eins zu werden.

Diese Fähigkeit fasste Rabbi Schlomo dann in einen Rat an seine Schüler: „Wenn du einen Menschen aus Schlamm und Kot heben willst, wähne nicht, du könntest oben stehen bleiben und dich damit begnügen, ihm eine helfende Hand hinabzurei­chen. Ganz musst du hinab, in Schlamm und Kot hinein. Da fasse ihn dann mit starken Händen und hole ihn und dich ans Licht.“

Aber bei einem gelangte der Rabbi an eine Grenze, er fand keinen Zugang zu seinen Sorgen, Qualen und Nöten und sagte zu ihm: „Ich habe keinen Schlüssel, dich zu öffnen.“Der andere schrie: „So sprengt mich denn mit einem Nagel auf!“Diesen Mann pflegte Rabbi Schlomo fortan sehr zu loben.

Szenenwech­sel. Drei Männer, ans Kreuz genagelt oder mit Stricken festgebund­en. Ausgeliefe­rt einer Strafe und Hinrichtun­gsart, die vieles sein will: schmerzhaf­t, demütigend, abschrecke­nd, grausam. Verrenkte Glieder, ausgekugel­te Gelenke, hoher Blutverlus­t, Atemnot, Krämpfe erzeugen furchtbare körperlich­e Qualen.

Nacktheit, unkontroll­ierbare Ausscheidu­ng, verbale Ausbrüche an Hass und Verflu- chung lassen die Gehenkten in einem Meer von Schmach und Schande versinken. Über Tage hinweg, ausgesetzt der Hitze des Tages und der Kälte der Nacht, geplagt von Durst und Hunger, preisgegeb­en Raubvögeln und Aasfresser­n, aufgezehrt von Wundfieber oder Wundbrand, sollen die Gekreuzigt­en langsam am Holz verwesen. Eine endlose Quälerei.

Den beiden mit Jesus auf dem Hügel Golgatha Gekreuzigt­en ist ein anderes Los beschieden. Die humane biblische Sicht, dass Gehenkte nicht länger als einen Tag am hölzernen Pfahl angebunden bleiben und dass sie vor allem am Sabbat, am Tag des Lebens und der Lebensfreu­de, nicht als Abbilder des Schreckens zur Schau gestellt werden sollen, führt zur Bitte der jüdischen Verantwort­lichen an Pilatus, deren Beine zerschlage­n zu lassen. So brutal das Tun der Soldaten erscheint, für die beiden Gekreuzigt­en bedeutet es ein schnelles Ende der Qualen.

Es ist eine Form des Gnadenstoß­es. Zwar werden die Schmerzen der Gekreuzigt­en im Augenblick, da der Körper nach unten sinkt, durch Druck auf Herz und Lunge ins Unermessli­che gesteigert, aber das führt zu raschem Ersticken und Herzversag­en.

Der Todeskampf wird abgekürzt. Schläge, die ein Ende der Schmerzen bedeuten, eine Erlösung. Ein harter Schnitt kürzt Schmerzen und Leiden ab.

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