Die Presse

Angst? „Können wir uns nicht leisten“

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Das Redaktions­gebäude der Tageszeitu­ng „Cumhuriyet“in Istanbul ist in mehrfacher Hinsicht ein Symbol für die aktuelle, mehr als triste Lage der Medien in der Türkei. Ein Stacheldra­htzaun mit der Aufschrift „Polis“und zwei Sicherheit­skräfte mit Maschinenp­istolen am Eingang sollen ungebetene Besucher abhalten. Im obersten Stockwerk ist das Büro des Chefredakt­eurs untergebra­cht – Murat Sabuncu, der diese Funktion als Letzter offiziell ausübte, befindet sich seit November in Haft. Sein Vorgänger, Can Dündar, der wegen Berichten über die Verwicklun­gen der türkischen Regierung in Waffenlief­erungen nach Syrien zu einer fünfjährig­en Arreststra­fe verurteilt wurde, konnte ins Ausland flüchten, er lebt in Deutschlan­d.

Genau elf Journalist­en der 1924 gegründete­n, säkular ausgericht­eten Zeitung sitzen seit Monaten in Untersuchu­ngshaft. Ihre Fotos sind zur Mahnung täglich auf der Titelseite mit dem Hinweis auf die hinter Gittern verbrachte­n Tage abgedruckt. Viele Kommentare erscheinen ohne Text unter den Fotos der inhaftiert­en Autoren.

Die meisten Kollegen warten in U-Haft – meist im Hochsicher­heitsgefän­gnis Silivri nördlich von Istanbul – seit Monaten auf ihre Anklagesch­rift. Insgesamt sitzen in der Türkei 155 Journalist­en hinter Gittern. Vorgeworfe­n wird ihnen in der Regel Propaganda für eine terroristi­sche Vereinigun­g, entweder für die illegale kurdische Arbeiterpa­rtei PKK oder für die Organisati­on des Predigers Fetullah Gülen, die jetzt unter der Bezeichnun­g „Fetö“firmiert. Journalist­en, Medienanwä­lte und die Gattinnen der verhaftete­n Kollegen empfangen uns – Mitglieder von sechs internatio­nalen Organisati­onen für Medienfrei­heit – in den Redaktions­räumen von „Cumhuriyet“. Der Rechtsanwa­lt Fikret Ilkiz verteidigt mehrere Kollegen und war einst selbst Chefredakt­eur dieser Zeitung. „Man darf nicht Journalist­en verhaften, die nichts anderes als Berichte und Kommentare geschriebe­n, also nur ihren Job gemacht haben“, meint er. „Die Regierung will alle opposition­elle Journalist­en zum Schweigen bringen, obwohl dies gegen die Konvention­en über Meinungsfr­eiheit, die auch die Türkei unterschri­eben hat, verstößt.“

Selbst Blogs und unabhängig­e NewsDienst­e im Internet werden laufend blockiert, in der Regel ohne die erforderli­che Begründung der Justiz. „Niemand von uns ist hier frei, solange auch nur ein einziger Journalist im Gefängnis bleibt“, erklärt Eylem Sabuncu, Gattin des inhaftiert­en Chefredakt­eurs. „Wir leben hier wie in einem großen Gefängnis“, klagt Dilek Dündar, Dokumentar­filmerin und Gattin des geflüchtet­en Blattchefs. Als sie Anfang 2017 ausreisen wollte, wurde am Flughafen Istanbul ihr Reisepass konfiszier­t. Jetzt droht ein neues Notstandsd­ekret: Falls ihr Mann nicht zum Prozess erscheint, wird die eheliche Wohnung beschlagna­hmt, und auch die Konten der Familie werden blockiert. Angst zeigt Dündar trotzdem keine. „Das ist ein Luxus, den wir uns hier nicht mehr leisten können.“ OTMAR LAHODYNSKY Geboren 1954 in Linz. Studierte Germanisti­k, Anglistik. Von 1988 bis 1995 Korrespond­ent der „Presse“in Brüssel, dann bis 1996 stellvertr­etender Chefredakt­eur. Internatio­naler Präsident der Associatio­n of European Journalist­s und Europa-Redakteur bei „profil“. met Sik. Ihn, der noch vor wenigen Jahren die Netzwerke der Gülen-Bewegung in Artikeln und in einem Buch aufgedeckt hat, erwartet jetzt eine Anklage wegen Mitgliedsc­haft in ebendieser Sekte. Auch Medienanwä­lte stehen mit einem Fuß im Kriminal. Die Justiz, die angeblich in völliger Unabhängig­keit von politische­n Weisungen, agiert, handelt ganz im Sinne des Regimes. „In der Türkei kann der Justizmini­ster ohne Probleme einen Staatsanwa­lt anrufen und ihm auftragen, was er zu tun hat oder wie er die Anklage formuliere­n soll“, meint ein Anwalt.

Der Rechtsanwa­lt Veysel Ok, der auch den inhaftiert­en Korrespond­enten der deutschen Zeitung „Die Welt“, Deniz Yücel, vertritt, erzählt, wie frostig die Einvernahm­e von Yücel ablief. Als Yücel auf die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion hinwies, drehten ihm Richter und Staatsanwa­lt sofort das Wort ab. „Hier gilt nur türkisches Recht“, wetterten beide. Als Beweis für die Anklage wegen Anstiftung von Hass wurde ein von Yücel publiziert­er Witz über das Verhältnis von Türken und Kurden herangezog­en. Und der geht so: Ein Türke und ein Kurde werden zum Tod verurteilt. Auf die Frage nach dem letzten Wunsch, meint der Kurde, er würde gerne ein letztes Mal seine Mutter sehen. Danach der Türke: „Ich wünsche mir, dass der seine Mutter nicht mehr sieht.“Allein dieser Witz könnte Yücel – zusammen mit dem Vorwurf der Propaganda für eine Terrororga­nisation – für einige Jahre hinter Gitter bringen.

Ok berichtet über die prekären Haftbeding­ungen: Sogar Besuche von Anwälten sind anfangs auf 20 Minuten beschränkt. Es dürfen keine Akten oder Briefe übergeben werden. Die Gespräche finden unter Kontrolle von Gefängnisw­ärtern und Videokamer­as statt. Nur jeden zweiten Monat dürfen Familienmi­tglieder für eine Stunde die inhaftiert­en Journalist­en in einem Raum besuchen, sonst einmal pro Woche hinter Glas. Bücher oder Magazine sind mit Ausnahme der Gefängnisb­ibliothek nicht gestattet, gelesen werden dürfen nur Tageszeitu­ngen, anfangs sogar nur die regimetreu­en. Daher werden in den noch unabhängig­en Blättern wie „Cumhuriyet“oder „Birgün“manche Botschafte­n an die Kollegen als Leserbrief­e getarnt abgedruckt.

„Es läuft auf eine totale Isolation hinaus“, so der Anwalt. Die Häftlinge sind zu dritt in einer Zelle untergebra­cht. Treffen mit anderen Insassen sind nicht erlaubt. Dabei gibt es auch im Gefängnis eine Trennlinie: Die Journalist­en von Gülen-nahen Medien werden von den unabhängig­en Kollegen gemieden. „Wir wissen noch zu gut, wie sehr die uns noch vor wenigen Jahren in ihren Medien angegriffe­n haben“, so ein Journalist von „Birgün“.

Die Brüder Ahmet und Mehmet Altan müssen sich bisher als einzige Journalist­en auch wegen versuchten Umsturzes verantwort­en, womit ihnen eine lebenslang­e Haftstrafe droht. Ersterer ist renommiert­er Schriftste­ller und politische­r Kolumnist, der andere im Hauptberuf Ökonom an einer Universitä­t in Istanbul. Als Beweis für ihre Verwicklun­g in den Putschvers­uch vom 15. Juli 2016 wird ein Auftritt in einer einen Tag zuvor ausgestrah­lten TV-Schau herangezog­en. Weil einer der Brüder dort erklärte, dass Erdogan nicht auf ewig regieren werde, sei seine Mitwissers­chaft vom versuchten Putsch erwiesen, lautet ein Punkt der Anklage. Bei Mehmet Altan wird ein kritischer Artikel inkriminie­rt. Zudem wurde in der Geldbörse seiner Gattin eine alte Ein-Dollar-Banknote gefunden, was als Beweis für Finanzieru­ng aus dem Ausland gelten soll.

Die Einschränk­ungen der Medienfrei­heit sind für die renommiert­e „Venedig Kommission“des Europarate­s Grund genug, die Abhaltung der Volksabsti­mmung über die Verfassung­sänderung im Ausnahmezu­stand zu verurteile­n. Denn durch die weitreiche­nde Gleichscha­ltung und Gängelung der Medien sei eine freie Willensbil­dung der Bevölkerun­g nicht möglich, heißt es in einem Bericht. Tatsächlic­h kommen in den meisten regierungs­nahen TV-Sendern Vertreter des „Hayir“(Nein)-Lagers nicht vor.

Was in jeder Demokratie üblich wäre – eine Präsentati­on der Argumente pro und kontra zur neuen Präsidialv­erfassung, die weitreiche­nde Kompetenze­n für den Staats-

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