Verdienen Sie doch weniger!
Fast überall steigt die Ungleichheit. Genauer gesagt, in fast allen Staaten steigt sie, in manchen stärker, in anderen schwächer. Aber steigt die Ungleichheit in der Welt insgesamt, wenn man die Einkommen unabhängig davon nimmt, wo sie verdient wurden? Das ist die Frage, die Branko Milanovic´ untersucht. Er hat lange Zeit in der Weltbank zu diesem Thema gearbeitet. Gemeinsam mit anderen hat er Erhebungen über Ausgaben der Haushalte in jenen Staaten entwickelt, die Daten für die Berechnungen liefern. Traurige Ironie: 1985 hatte Milanovic´ über Ungleichheit in Jugoslawien dissertiert – in einem Staat. Mittlerweile handelt es sich um die Ungleichheit in acht Staaten!
Zerlegt man die Ungleichheit in der Welt in die Komponenten „Ungleichheit der Durchschnittseinkommen zwischen den Staaten“und „Summe der Ungleichheiten innerhalb eines Staats“, dann dominiert die erste Komponente. Das heißt, wenn man eine Person nimmt und fragt, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie ein bestimmtes Einkommen hat, so gibt die Aussage, in welchem Staat dieses Einkommen verdient wurde, mehr Information, als wenn man weiß, mit welcher Tätigkeit dies geschehen ist. Zu wissen, dass diese Person Bauarbeiter oder Professorin ist, sagt weniger über ihr Einkommen aus als die Information, wo die betreffende Person lebt, etwa in Indien oder in Österreich.
Das Resultat der Untersuchung: Die Ungleichheit ist in den vergangenen 20 Jahren etwas gesunken, obwohl die Ungleichheit in allen Staaten größer geworden ist. Die Ungleichheit des Durchschnittseinkommens zwischen den Staaten ist gesunken. Zwar gab es in vielen Staaten kein Wirtschaftswachstum, aber einige große Staaten hatten eines über dem der reichen Ökonomien: China, Indien, Philippinen, Indonesien, Malaysia, Brasilien. Das betrifft 40 Prozent der Weltbevölkerung. In diesen Staaten entstand eine neue Mittelschicht, deren Einkommen oberhalb einer sinnvollen Armutsschwelle in Bezug auf diese Staaten liegt. Das sind Gewinner der Globalisierung.
In den reichen Staaten hat die untere Mittelschicht verloren. Das Absinken der Einkommen der wenig Qualifizierten erhöht die Ungleichheit in den reichen Ländern, aber senkt sie bei der Berechnung der Ungleichheit in der Welt als Einheit gesehen. Der Grund dafür: Der größte Teil dieser Verlierer gehört weltweit zur oberen Hälfte aller Einkommensbezieher. Wenn sie weniger verdienen, sinkt die Ungleichheit.
Diese Tatsache ist Ausgangspunkt der Überlegungen von Milanovic.´ Er stützt sich auf die These, dass bei Beginn wirtschaftlicher Entwicklung die Ungleichheit steigt, später aber wieder zurückgeht: die KuznetsHypothese, nach dem US-amerikanischen Nobelpreisträger für Ökonomie Simon Kuznets. Nach heutigem Wissensstand war diese These richtig zu der Zeit, als sie aufgestellt wurde, in den 1950er-Jahren.
Das mag überraschen, spricht man doch immer vom Elend der Arbeiter beim Beginn der Industrialisierung. Es stimmt, die Arbeiter lebten damals im Elend. Aber einem großen Teil von ihnen beziehungsweise deren Vorfahren ging es davor nicht besser. Vor der Industrialisierung hatte der größte Teil der Bevölkerung kaum mehr als ein sehr bescheidenes Existenzminimum. Im vergleichsweise reichen England konnten im 18. Jahrhundert circa 20 Prozent der Bevölkerung nicht genug Kalorien für produktives Arbeiten erhalten. Die im Vergleich zu späteren Jahrzehnten geringe Ungleichheit war eine Folge der Armut der Gesellschaft, nicht Ausdruck einer egalitären Gesinnung oder entsprechender politischer Strukturen. sind sehr reich geworden, aber der gestiegene Reichtum Chinas fiel nicht nur einer kleinen Schicht zu. Mehrere Hundert Millionen Chinesen leben heute bedeutend besser als sie oder ihre Eltern vor 30 Jahren. Das hat die Ungleichheit in China erhöht, die in der Welt als Einheit aber gesenkt. Ähnliches gilt für andere rasch gewachsene Wirtschaften, wenn auch in geringerem Maß.
Diese Entwicklung begann in Europa im 18. Jahrhundert. Nicht die wachsende Ungleichheit wurde begrüßt, sondern man sah, dass ein gutes Leben nicht mehr nur für sehr wenige möglich ist. Ein größerer Teil der Menschheit kann das erreichen. Die bald darauf entstandene sozialistische Hoffnung beruhte ebenfalls darauf, dass der produzierbare Reichtum so stark wachsen wird, dass alle gut leben können. Es ist zumindest möglich, dass die Ungleichheit sinkt, ohne dass es zu einer Gleichheit in Armut kommt.
In Europa verlief die Entwicklung nach diesem Muster. Steigende Produktivität, gewerkschaftliche Organisierung, sozialstaatliche Einrichtungen haben zu einer Verringerung der gemessenen und auch der erlebten Ungleichheit geführt. Man sieht das an der früher großen Bedeutung des Hauspersonals in Haushalten von Menschen mit höherem Einkommen. Um 1910 verdiente in Wien ein Universitätsprofessor bis zum 40-Fachen eines Taglöhners. Da kann man leicht Hausgehilfen und Kindermädchen beschäftigen. Heute beträgt das Verhältnis zwischen dem Einkommen eines Professors und einer Arbeitskraft ohne Qualifikation vielleicht fünf zu eins. In armen Ländern hingegen findet man noch die Relationen, die hier vor 100 Jahren geherrscht haben. Aus den Arbeiten Pikettys wissen wir, dass die Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vermögen und die Gewinneinkommen reduziert haben; der damit bewirkte Rückgang der Ungleichheit war teuer erkauft.
Die seit Längerem wieder steigende Ungleichheit in den reicheren Staaten zeigt, dass die Kuznets-Hypothese nicht das Ende der Geschichte ist. Dafür gibt es viele Ursachen. Milanovic´ führt mehrere davon an. Die Integration von Märkten für Güter und Arbeit, die Jahrzehnte national abgeschottet waren, ist wohl eine der zentralen Ursachen. Technischer Fortschritt wie der Ersatz von Arbeitskräften durch Computer wirken in die gleiche Richtung. Computer kämen weniger zum Einsatz, produzierte man nicht die dafür notwendige Hardware in Asien mit niedrigen Löhnen. Die steigende Erwerbstätigkeit der Frauen, sicher nicht unerfreulich, trägt ebenfalls zu mehr Ungleichheit der Haushaltseinkommen bei, da Personen mit annähernd gleichem Qualifikationsniveau häufig einen gemeinsamen Haushalt bilden. Schwächere Gewerkschaften durch die Verschiebung der Arbeitskräfte von der klassischen Industrie zu Dienstleistungen, die teils sehr gut, teils sehr schlecht entlohnt sind, und die Verbindung von hohen Arbeitseinkommen und großem Vermögen in einem Haushalt sind weitere Ursachen.
Der Autor präsentiert einige Überlegungen über die mögliche weitere Entwicklung der weltweiten Ungleichheit. Als seriöser Wissenschaftler ist er mit Prognosen zurückhaltend. Aber er zeigt auf, worauf es ankommt. Da ist zunächst die Frage nach dem weiteren Wachstum der Staaten, deren Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten rasch gewachsen ist. Wenn diese Staaten weiterhin rascher reicher werden, dann wird die Ungleichheit in der Welt geringer. Es gibt gute Gründe, dass dies der Fall sein wird.
Eine Besonderheit ist dabei China. Wenn diese Wirtschaft weiterhin starkes Wirtschaftswachstum haben wird, dann wird in einigen Jahren das Durchschnittseinkommen dieses Landes über dem Medianeinkommen der Welt liegen – eine Hälfte hat mehr, die andere weniger. Ein weiteres Wirtschaftswachstum über dem des Durchschnitts der anderen Staaten wird die Ungleichheit in der Welt als Ganzes erhöhen, so, wie das starke Wirtschaftswachstum in den vergangenen 30 Jahren die Ungleichheit reduziert hat. Das gilt auch dann, wenn die Ungleichheit innerhalb Chinas nicht weiter steigen wird.
Vergrößert wird die Ungleichheit in der Welt auch durch das geringe Wirtschaftswachstum aus Afrika. Nicht nur bleiben die Einkommen in fast allen Staaten dieses Kon- tinents gegenüber dem in reicheren Staaten zurück, das Gewicht Afrikas in diesen Berechnungen wird wegen des Wachstums der Bevölkerung in Afrika größer. Die Bevölkerung wird noch lang wachsen, auch wenn die Geburtenzahl zurückgeht. Das gilt gerade dann, wenn die Entwicklung in Afrika positiv verläuft. Die Lebenserwartung in Afrika liegt derzeit unter 60 Jahren, die Säuglingssterblichkeit ist noch immer sehr hoch.
Ob die weltweite Ungleichheit steigt oder nicht, hängt aber auch von der Entwicklung der Ungleichheit innerhalb der Staaten ab. Geht man von den Erfahrungen der jetzt bereits reichen Wirtschaften aus, wie sie die Hypothese Kuznets darstellt, so sollte der Anstieg des Reichtums in den jetzt noch armen Ländern den Anstieg der Ungleichheit insgesamt bremsen. Fraglich bleibt, ob diese Entwicklung sich wiederholen wird. Schließlich war der Rückgang der Ungleichheit mit der Entwicklung demokratischer Verhältnisse verbunden, also dem Ausbau von sozialstaatlichen Strukturen und die Freiheit gewerkschaftlicher Organisierung. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zwischen starkem Wirtschaftswachstum und dem Übergang zu demokratischen Strukturen. Gesichert ist er nicht. Positive Beispiele für so einen Zusammenhang sind Südkorea und Taiwan. Auf die Reduzierung der Ungleichheit durch ein Sinken der Kapitaleinkommen als Folge schwerer Krisen und Kriege kann man jedenfalls verzichten.