Wellen der Wut
Geht das, darf man das? Kann ein überzeugender Roman entstehen, wenn eine Autorin kaum Distanz zum aktuellen Zeitgeschehen herstellt, wenn sie Figuren über Merkels Flüchtlingspolitik oder Erdogans˘ autoritäres Regime sinnieren lässt und Zeitungsmeldungen über Gewalttaten rasch zu Romanszenen umformt? Für die in Berlin lebende Journalistin Fatma Aydemir, Jahrgang 1986, scheinen das keine wesentlichen Fragen zu sein; sie riskiert viel in ihrem Debüt „Ellbogen“und versucht, ein Lebensgefühl, das sich in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eher selten findet, widerzuspiegeln.
Ihre Heldin, Hazal, zu Beginn des Buches 17 Jahre alt, lebt mit ihren „deutschtürkischen“Eltern im rauen Berliner Stadtteil Wedding. Was aus ihrem Leben werden soll, bleibt vage: Sie nimmt wohl oder übel an einer „berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme“teil, muss ein ödes Pflichtpraktikum in der Bäckerei ihres Onkels absolvieren, hängt – Wodka trinkend und Haschisch rauchend – mit ihren Freundinnen herum, kommt nach einem Lippenstiftdiebstahl einem Kaufhausdetektiv in die Quere und träumt davon, das „Baby“des zehn Jahre älteren, in Istanbul lebenden Mehmet zu werden. Kennengelernt hat sie ihn über Facebook – eine Kluft, die es erlaubt, den fernen Mann mit allen möglichen Wunschprojektionen aufzuladen.
Fatma Aydemir hat einen einfachen Erzählweg gewählt, um Hazals aufgewühltes Innenleben zu schildern. Sie folgt dem Bewusstseins- und Gefühlsstand ihrer Heldin, bleibt weitgehend deren Sprachduktus treu und lässt keine kommentierende Außensicht zu. Die Vor- und Nachteile dieser Methode liegen auf der Hand: Hazals Denken und Reden soll so authentisch wirken, soll ihre Zerrissenheit nicht mit einem analytischen Überbau verstellen. Doch ebenso deutlich ist, dass „Ellbogen“dadurch Gefahr läuft, Hazal zum bloßen Sprachrohr einer verloren gehenden Generation zu machen. Wolfgang Herrndorf in „Tschick“und Stefanie de Velasco in „Tigermilch“haben übrigens verwandte Verfahren eingesetzt.
Hazal und ihre Freundinnen haben nichts zu verlieren. Sie träumen von Prinzen, die sie befreien, und sie sind untergründig von kaltem Hass auf diese Gesellschaft bestimmt. Hazals Elternhaus ist patriarchalisch geprägt. Ihren Vater, einen Taxifahrer, der nicht zurückschreckt, seine Tochter zu schlagen, zieht es so oft wie möglich ins Cafe,´ wo die Männer große Reden schwingen; ihre Mutter verbringt die Abende vor dem Smartphone oder Fernse- her und lässt sich von Hazal Tee servieren. Ausnahmegestalt in diesem Kosmos ist Tante Semra, die studiert hat, Sozialarbeiterin ist und unvorstellbarerweise Tampons auf ihrem Esstisch liegen lässt.
Kaum ist Hazal mit ihren Freundinnen unterwegs, wird aus der vordergründig folgsamen Tochter eine Furie, die vor allem darunter leidet, dass sich ihre Wut nicht kanalisieren lässt. Diese ist „so groß, dass sie nicht in mich hineinpasst. Sie droht meine Haut zu sprengen, mich von innen aufzuessen und wieder auszuspucken.“Alles, was Hazal in ihrem tristen Alltag begegnet, kann in Sekundenschnelle Wellen der Wut auslösen: zum Beispiel der Anblick von saturierten Menschen, die nicht in Billigläden kaufen und „Dinge und Menschen“haben, „an denen sie sich festhalten“. Kulminations- punkt aller Frustrationen wird Hazals 18. Geburtstag. Groß will sie ihn feiern, doch als ihr und ihren aufgetakelten Freundinnen der Zutritt zu einem Szeneklub verwehrt wird, läuft das Fass über: Nächtens geraten sie an einer U-Bahn-Station mit einem Studenten aneinander, der so betrunken wie sie selbst ist; es kommt zum Gerangel, und letztlich ist es Hazal, die ihn auf die Gleise stößt, wo er kurz darauf zu Tode kommt.
Von da an ist Hazal auf der Flucht. Im zweiten Teil des Romans findet sie sich in Istanbul wieder, wo sie in der versifften Wohnung ihres Onlineliebhabers Mehmet unterkommt und ängstlich im Internet nach Meldungen über die Berliner Tat forscht. Istanbul, das Hazal nur vom Hörensagen gekannt hat, ist eine fremde, anstrengende Welt für sie. Von den politischen Auseinandersetzungen dort weiß sie wenig, ja, selbst die Frage, ob sie Kurdin sei, kann Hazal nicht zweifelsfrei beantworten. So bleibt ihr „Identitätsproblem“unlösbar, und auch Mehmet verliert rasch jenen Glanz, den er via Internet einst ausgestrahlt hat.
Was tun mit dieser verkorksten Biografie? Dem gut gemeinten Rat der nach Istanbul eilenden Tante folgen und sich der Polizei stellen? Hazal weiß es nicht. Allenthalben spürt sie nur die „Ellbogen von denen, die stärker sind als wir“, versuchen „Leute“, die „anderen fertigzumachen und mit dem Finger auf sie zu zeigen“. Hazals naive, unbefriedigende Schlussfolgerung ist eindeutig: „Was macht es für einen Unterschied, ob ich in der Türkei bin oder in Deutschland?“Und ihre Wut schlägt vollends in tiefe Resignation um: „Kein Schwanz interessiert sich für uns, sie sehen uns nur, wenn wir Scheiße bauen, dann sind sie plötzlich neugierig.“
„Ellbogen“ist ein vor Aktualität strotzender Roman, dessen Wirkung eigentümlicherweise in den in der Türkei spielenden Passagen deutlich abflaut. Da werden Hazals Reflexionen zu matten Abziehbildern, haftet ihrer Perspektive Aufgesetztes an. So, wenn sich die Stadt Istanbul von „ihrer schönsten Seite“zeigt und Hazal als sie verführerische „Nutte“erscheint, die „uns im nächsten Moment krass über den Tisch“zieht. Diese ein wenig erzwungen wirkenden Bilder beiseitegelassen, überzeugt „Ellbogen“dennoch über weite Strecken: als ungeschminkte Ansicht einer grenzenlosen Wut, als Roman, der Betroffenheit erzeugen will, ohne ins Genre der Betroffenheitsliteratur abzugleiten.
Fatma Aydemir Ellbogen Roman. 272 S., geb., € 20,60 (Hanser Verlag, München)
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