Augenblick, eile doch!
DQie kargen Farben der Häuser hier sehen aus, als schämten sie sich, Farben zu sein. Überhaupt ist dieses triste Stück Straße zwischen Bahnhof und Hotel für große Auftritte keineswegs geeignet. Sagen wir, es ermangelt der Dimension. So auch an diesem Vormittag im Monat März.
Doch der Mann, der da kommt, erweckt Hoffnung. Großer Bahnhof, gewaltiger Händedruck. Tausend Leute durchbrechen die Absperrung. Aber kein Lächeln überkommt den Gast auf dem Weg zum Hotel, als aus der Menge nicht nur sein Vorname, sondern sein voller Name gerufen und so jeder Zweifel beseitigt wird, welchem der beiden Herren – dem Gastgeber oder dem Besucher – all die Begeisterung, die Hoffnung gilt.
Der hohe Gast eilt auch nicht gleich ans Fenster, als sein Regierungssprecher ihn wissen lässt, nun riefen die Leute da draußen wahrhaftig immer noch nach ihm. Er zögert. Schließlich sagt er: „Aber nur einen Augenblick.“Und in diesem Augenblick am Erkerfenster – halb links über der Reklameschrift für „Pilsner Urquell“, während Jubel tönt – wirkt er gar nicht wie ein Mann, der seinen Erfolg genießt; eher wie einer, der den Szenenwechsel schon erahnt, den es dort unten gleich geben wird. Und kaum eine Stunde später ist der Platz tatsächlich von allen inoffiziellen „Elementen“geräumt.
Drinnen im Hotelsaal deklamiert unterdessen 58 Minuten lang der Gastgeber, seines Zeichens Vorsitzender des Ministerrats und stellvertretender Vorsitzender des Staatsrats; mit einem 42 Minuten dauernden Monolog revanchiert sich der Gast: 100 Minuten lang haben einander die beiden Herren, obschon ein und derselben Muttersprache, nicht viel zu sagen. Weder bringt der Gast die völkerrechtliche Anerkennung mit, noch macht der Gastgeber seinem Besucher Zusagen für „menschliche Erleichterungen“im geteilten Land.
Dennoch begann an diesem Märztag sogenannte Realpolitik, und der Geist der Stunde reizte zu Optimismus. So fuhr der Gast einigermaßen befriedigt nach Hause: „Der Tag hat mich reicher gemacht.“Seine Minister warnte er vor Illusionen: „Es wird ein langer, langer Weg.“– Vier Jahre danach trat er vom Amt des Bundeskanzlers zurück: Ein Spion (aus dem Land seines einstigen Gastgebers) war ihm zum Verhängnis geworden.
Wer traf wen? In welcher Stadt? Von welchem Spion ist die Rede?