Helden im verwunschenen Wald
Dies sind der Ort und der Moment: Immer näher kommt das gedämpfte Klappern der Pferdehufe, schon tauchen die ersten Gestalten zwischen den uralten, weitverzweigten Buchen auf. Mit wehendem Schweif und schweißüberströmtem Oberkörper galoppieren sie zwischen den bemoosten Felsblöcken hindurch, dass die Erdbrocken fliegen. Wieherndes Lachen dringt herüber, betrunkenes Grölen, und wie immer sind sie zerstritten und verpassen sich ein paar Huftritte im Vorüberpreschen – es ist eine wilde Meute, der man besser nicht in die Quere kommen möchte.
Aber schon ist er wieder vorüber, der Spuk, ein Traum nur, diese wilde Jagd der Kentauren, der Männer mit dem Körper von Pferden, den Fabelwesen mit vier Beinen und zwei Armen. Hier, im Pilion, sind sie zu Hause, hier hat die griechische Sage sie zechen, kämpfen und Unheil anrichten lassen. Und der verwunschene Wald, durch dessen dichtes Blätterdach grün-gelbes Licht in Streifen einfällt, scheint genau der richtige Ort für solche Ausgeburten der Antike zu sein.
Netz der alten Maultierpfade
Der 60 Kilometer lange Gebirgszug Pilion im Herzen Griechenlands zieht sich bis zu 1550 Meter hoch auf die gleichnamige Halbinsel, die etwa 200 Kilometer südlich von Thessaloniki wie ein Stiefel ins Ägäische Meer hineinragt.
Helden trifft man hier immer wieder, fasst man den Begriff nur weit genug: Akteure, erfundene wie reale, die das Land gestalten und an die man sich erinnert. Dimitri Varalis ist ein solcher. Vor zwanzig Jahren hat der Wanderführer mit dem Pferdeschwanz und dem weißen Bart zusammen mit zwei Freunden begonnen, das Netz der alten Maultierpfade zu er- kunden. Befestigt wurden sie vor rund 200 Jahren, als Seide und Früchte großen Wohlstand in diese Region gebracht hatten. Die Einwohner ließen Handwerker aus dem Süden kommen, die ihnen sichere dreigeschoßige Wohntürme errichteten und auch die alten Pfade ausbauten. „Wie wichtig ein Dorf war“, erklärt Dimitris, „kann man heute noch an der Qualität der Wege erkennen, die dorthin führen.“
Den Weg freischneiden
Er und seine Mitstreiter gingen daran, diese Wege, Kalderimi genannt, wieder herzurichten. Es gab Geld, auch von der EU, eine richtige Bewegung, „Freunde der Kalderimi“, entwickelte sich, und noch heute ziehen Gruppen von Gleichgesinnten einfach einmal für ein Wochenende mit Schaufel und Heckenschere los und bringen eine brombeerüberwucherte, alte Verbindung neu in Form. Alles zum Nutzen und Wohle der Wan- derer. Die finden ein mehr als 100 Kilometer umfassendes Netz so gut markierter, abwechslungsreicher und in Schuss gehaltener Pfade vor wie nur selten wo. Manche sind mit Feldsteinen gepflastert, andere kunstvoll mit senkrecht versenkten Steinplatten. Einige führen über südliche Hänge mit Rosmarin, Myrte und Lorbeer, andere über ehrwürdige Steinbrücken und durch Kastanienwälder, in denen im Herbst die stachligen Hüllen den Boden bedecken wie Myriaden toter Seeigel.
Der Weg von Agios Joannis nach Tsangarada an der Nordostküste verläuft am Meer entlang. An Sand- und Kiesstränden vorbei geht es zunächst, dann hinauf in grauen, zerfurchten Fels. Im Küstenort Damouchari feiern sie einen Star: Meryl Streep ist die erklärte Heldin des Ortes, seit sie 2007 in dem winzigen Naturhafen Szenen von „Mamma Mia“drehte. Hotelbesitzer Thomas Olkas ließ Prospekte drucken, die heute noch davon erzählen, wie 300 Leute für drei Tage einfielen, Meryl stundenlang tanzte wie ein Teenager und sich abends ohne Allüren zu allen anderen an den Tisch setzte. Und es kommen immer noch Touristen genau wegen dieses Films, sagt Olkas zufrieden.
Dezent bebaut
Grandiose Ausblicke gibt es viele auf Pilion – und nur selten sind sie verbaut. Die Gegend kennt keine Riesenhotels, sie ist immer noch ein Urlaubsort gerade für die Griechen geblieben. Eftichia Stellou, die Wirtin des Poseidonas in Agios Joannis erzählt, wie sich bis 1945 an der Küste nur die Lagerkeller der Bauern befanden, die selbst oben in den Dörfern wohnten. Ein Basketballcamp der Amerikaner brachte nach 1945 so etwas wie einen ersten Tourismus. Heute gibt es in etwa 20 Restaurants und Hotels mit insgesamt 2000 Betten. Von Ende Oktober bis Anfang März aber fällt das Dorf in Winter- schlaf. Die meisten Besitzer gehen zurück in die Stadt Volos. Etwa zwei Dutzend Menschen bleiben. Eftichias Restaurant ist der Treffpunkt. Man sieht fern, liest Zeitung und starrt in den manchmal fallenden Schnee. Ja, sie würde gern etwas anderes machen. „Aber durch die Krise geht das eben nicht so einfach.“
Der Besucher aus dem Norden kann Pilion ohne solche Sorgen genießen. Er wandert zwischen Olivenhainen und verwilderten Apfelgärten, findet eingestürzte Häuser und hin und wieder Bauruinen. Er quert tiefe Schluchten, in denen die Feuchtigkeit einen tropfenden Regenwald wuchern lässt, und trinkt seinen Kaffee unter den Blättern der tausendjährigen Platane von Milies.
Abends kehrt der Wanderer mit leerer Batterie und vollem Erlebnisspeicher zurück nach Aphisos oder Lefokastro, wo die alten Männer immer noch ihre Kopoloi, die Perlenketten, klacken lassen und nie auf ein Smartphone schauen. Müde, zufrieden, glücklich bestellt er gegrillte Sardinen, dazu einen Tsipouro, den scharfen Trester. Die Katzen sitzen wie hungrige Wächter unter den Stühlen, und wenn die Brecher vom Meer höher schlagen, muss er den Tisch zurückziehen, damit das Brot nicht komplett eingeweicht wird. Die Nacht ist warm, die alten Tamarisken schütteln sich unter der Salzwasserdusche, weit draußen auf dem Meer blinkt noch ein Licht. Es könnte Odysseus sein – oder einer der anderen Helden von Pilion.
Griechenland. Auf der Halbinsel und dem Gebirgszug Pilion marschieren Wanderer auf wildromantischen Wegen, die einheimische Naturfreunde in Kleinarbeit wieder freigelegt haben. Ein Reiseziel ohne Massentourismus, aber immer in Reichweite des Badewassers. Wie wichtig ein Dorf war, kann man heute noch an der Qualität der Wege erkennen, die dorthin führen.