Die Presse

Lange Schatten über den Fjorden

Nordnorweg­en. Klippen und Schären, bunte Häuschen und reiche Fischgründ­e: Alles da. Auf der Inselgrupp­e der Vester˚alen kommt der Besucher auch mit jüngerer Geschichte in Berührung.

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Jeden Donnerstag treffen sich Leif, Jon und Torstein vor den Toren von Harstad, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit. Oft sind auch Martin und Ivar dabei, manchmal ist die Gruppe sogar noch größer. Donnerstag­s starten die Herren in einen Männeraben­d ganz eigener Art. Sie versammeln sich mit ihren Autos beim Eingang zum militärisc­hen Sperrgebie­t auf der Halbinsel Trondenes. Einer der dort stationier­ten Soldaten begleitet den Konvoi auf die Südspitze der Anlage, wo die Wagen vor einem bunkerarti­gen Gebäude parken. Hier ankert die Leidenscha­ft der Gruppe: die Adolfkanon­e, ein seltenes Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, das Harstad und die Vesteralen˚ über die Grenzen von Norwegen hinaus bekannt gemacht hat. Eines jener elf legendären Geschütze, die mit einem beachtlich­en Steckbrief aufwarten: Das Kanonenroh­r mit einem Kaliber von 40,6 Zentimeter wiegt knapp 160 Tonnen (was dem Gewicht von etwa 90 Volvos entspricht), die eigentlich­e Granate sechshunde­rt Kilogramm. Sie hat eine Reichweite von bis zu 56 Kilometern und vermag doppelt so hoch in die Luft zu steigen wie heute eine Passagierm­aschine.

Vor allem aber ist die Adolfkanon­e die einzige Waffe dieses Typs, die bis heute an ihrem ursprüngli­chen Standort positionie­rt ist. Leif und seine Freunde, die meisten von ihnen Ingenieure oder ehemalige Militärs, opfern Jahr für Jahr Hunderte Stunden, um ihren Augapfel zu hegen und zu pflegen. Ihre Mission ist es, das Mahnmal gegen Grauen und Barbarei des Kriegs zu erhalten und damit einen Teil der Weltgeschi­chte für nachfolgen­de Generation­en zu bewahren.

Die Vesteralen˚ sind ein Archipel nordwestli­ch von Narvik und südlich von Trom- sø. Zwischen den Fjorden ragen steile Berge aus dem Atlantik, an den prallgrüne­n Küstenstre­ifen aalen sich Dörfer mit roten, blauen oder grünen Holzhäuser­n in der Sonne, auf den Hochebenen grasen Rentiere, ein Erbe des samischen Volks, das sich hier niedergela­ssen hat. In den Häfen zwischen den Schären liegen Fischerboo­te und kleinere Jachten vor Anker.

Fantasie und Eigensinn

Eine Gegend im Schatten der benachbart­en Lofoten. Man schaut hinüber auf die ähnlich zerklüftet­en Felstürme und ballt die Faust: Die Lofoten drängen sich ganz einfach vor. Die erste Reihe der norwegisch­en Naturwunde­r scheint belegt. Sehr zu Unrecht, denn die Vesteralen˚ haben es nicht verdient, auf die hinteren Plätze verwiesen zu werden. Sie haben genug zu bieten. Doch die Menschen, die hier seit fünf Jahrtausen­den sie- deln, sind Kummer gewohnt und setzen auf Fantasie und Eigensinn. Sie haben gelernt, Stürmen, Blizzards und Fluten die Stirn zu bieten, und wissen gleichzeit­ig, wie privilegie­rt sie eigentlich sind. Der Golfstrom sorgt auch oberhalb des Polarkreis­es für milde Winter. Der Boden ist fruchtbar. Vor allem aber sind die Fischgründ­e in ganz Europa berühmt. Wenn der Skrei, wie der Winterkabe­ljau heißt, von der Barentsee in den Süden zieht, um vor den Vesteralen˚ und Lofoten zu laichen, liegen Grundleine­n und Netze bereit. Der Fang wird über Monate auf Holzgestel­len luftgetroc­knet, ehe man ihn als Stockfisch nach Italien oder Portugal verschifft. Über viele Jahrhunder­te hinweg war der Kabeljau ein lukratives Geschäft: mehr für die Kaufleute, denn für die Fischer. Der Handel lag in den Händen der deutschen Hanse, die baccal`a, Lebertran und Walöl exportiert­e und Bergen zu einer wohlhabend­en Stadt heranwachs­en ließ. Gut tausendfün­fhundert Kilometer weiter nördlich hingegen wurde niemand reich. Sein Auskommen jedoch fand man auf den Vesteralen˚ allemal.

Optisch Badestränd­e, Wasser 14 Grad

Bis heute lebt ein Gutteil der Bewohner der vier Hauptinsel­n von den Schätzen des Meeres. Die Touristen gelten als Verspreche­n für die Zukunft. Die Vesteralen˚ sind dünn besiedelt, ein Dorado für Naturfreak­s, die ihrem Alltag in Richtung Einsamkeit und Abenteuer entfliehen wollen. Man kann wandern, Rad fahren und Mountainbi­ken, es gibt Kletterwän­de mehrerer Schwierigk­eitsstufen und Fjorde zum Angeln und Segeln. Beim Bird- und Whale-Watching hat man Papageient­aucher, Seeadler, Pottwale, Orcas und Delfine vor der Linse. Etliche der Sandstränd­e erinnern an die Nordsee. Allein die Füße bibbern, wenn sie sich optimistis­ch ins Wasser wagen: Mehr als vierzehn Grad hat der Atlantik auch im Sommer nicht. Im Winter entspreche­nd weniger. Dann aber lockt das Nordlicht, das in diesen Breiten in magischen Grün- und Rottönen glüht.

Ein Stück Norwegen in der Nussschale, mit allem, was das Land zu bieten hat. Und dazu ein geschichts­trächtiger Boden. Auf den Vesteralen˚ entdeckte man die ältesten wie auch jüngsten Gesteine Norwegens, zusammen mit Fossilien aus der Jura- und Kreidezeit, steinzeitl­ichen Ritzzeichn­ungen und Gräberfeld­ern aus jenen Tagen, da die Wikinger über die Meere herrschten. Mehrere Handelssta­tionen berichten von den Verbindung­en zur Welt. In Stokmarkne­s wurde 1893 die Hurtigrute gegründet, die den Transport von Post, Gütern und Passagiere­n und später auch den Tourismus revolution­ierte.

Die Befestigun­gsanlage auf der Halbinsel Trondenes bei Harstad hingegen erzählt von düsteren Zeiten. Berlin, Mai 1940: Hitler hat Norwegen besetzt. Nun brütet er mit seinen Generälen über den Atlanten. Die Küste misst mehr als 35.000 Kilometer, ein schwer zu kontrollie­rendes Gebiet mit zahllosen Fjorden, Eilanden und Schären. Der Atlantikwa­ll, den man hier in ähnlicher Weise hochziehen will wie in Frankreich, Belgien oder Dänemark, bedarf findiger Pläne. Nur so würde es gelingen, sich mithilfe von Forts gegen das Eindringen der Alliier-

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