Die Presse

Migration zum Mixen

Grätzelges­chichte. Wie schlägt das Herz des zehnten Hiebs? Neo-Favoritner Kenan Koc, Saftbar-Wirt am Reumannpla­tz, über Befindlich­keit und Kulinarik zwischen Viktor-Adler-Markt und Amalienbad.

- VON EVA REISINGER

Bist du wahnsinnig? Glaubst du, Tschetsche­nen und Serben kommen zu dir und geben Geld für gesunde Säfte aus?“Diese Frage hörte Koc oft von seinen Freunden. Dass eine vegane Saftbar im zehnten Wiener Bezirk funktionie­ren kann, glaubte ihm keiner. „Natürlich hätte ich mich für einen Standort im Zentrum entscheide­n können. Mir war es aber ein Anliegen, den Menschen im Zehnten eine Chance zu geben, sich gesünder zu ernähren.“

Favoriten: Arbeiter statt Bobos

Der „zehnte Hieb“gilt, vor allem in dessen Zentrum, als erdiger Arbeiterbe­zirk mit hohem Anteil an Migranten – der Anteil von Menschen mit ausländisc­her Herkunft lag 2016 bei 43,4 Prozent –, Hipster und Bobos sucht man hier meist vergebens. Der Name leitet sich allerdings vom damals sehr exklusiven Jagdschlos­s Favorita im vierten Bezirk ab: Teile der dazugehöre­nden Siedlung im vierten und fünften Bezirk wurden 1874 „mit einem Hieb“dem neuen zehnten Bezirk, Favoriten, zugeordnet – dem „10. Hieb“, dem ersten außerhalb des Gürtels. Zinshäuser schossen aus dem Boden, die Bevölkerun­g versiebenf­achte sich bis 1910 auf rund 160.000 Einwohner – Armut und Elend brachten den Arzt und Reformer Victor Adler dazu, sich für die Rechte der Arbeiter zu engagieren. Der Rest ist Geschichte, 1919 wurde der Viktor-Adler-Platz (und Markt) nach ihm benannt.

Dort ums Eck, zwischen dem eher unschönen Betonplatz und dem wesentlich ansprechen­deren Amalienbad, liegt heute Konny’s Saftbar, in der man 20 verschiede­ne Säfte aus Obst und Gemüse, kombiniert mit ayurvedisc­hen Gewürzen, bestellen kann: Vom „Österreich­er“bis hin zum „Australier“. Das internatio­nale Konzept komme besonders gut bei Menschen mit Migrations­hintergrun­d an: „Jeder will wissen, ob die Zuta- ten wirklich typisch für sein Land sind, und wie der Saft schmeckt“, so der 31-jährige Unternehme­r. Nationen können auch gemischt werden, dann bekomme man quasi ein „Migrations­getränk“, scherzt der Eigentümer. Er selbst mischt gern den „Österreich­er“und den „Türken“– seine Familie stammt aus Ankara.

Tradition und Multikulti

Alte, zum Teil renovierte Zinshausfa­ssaden, kleinere Gemeindeba­uten – große wie der GeorgeWash­ington-Hof oder die Per-Albin-Hanson-Siedlung befinden sich am Wienerberg und gegen Oberlaa hin – und zwischendr­in ganz neue Wohngebäud­e prägen heute das Bild rund um den begrünten Reumannpla­tz, seit 1978 auch südlichste U-Bahnstatio­n der Linie U1. Doch nicht mehr lang: Am 2. September soll die U1 – um fünf Stationen verlängert – endlich bis nach Oberlaa flitzen.

In der Fußgängerz­one Favoritens­traße sind unzählige Geschäfte und Gastronomi­en angesiedel­t, es herrscht reges Treiben. Ein Straßenkün­stler schmettert „My Heart Will Go On“auf Serbisch. Dass die Bewohner rund um den Reumannpla­tz ihre Wurzeln auf der ganzen Welt haben, sieht man auch an den internatio­nalen Restaurant­s. Empfehlens­wert seien zum Beispiel das türkische Restaurant Diwan und das arabische Zeno. Dazwischen tummeln sich österreich­ische Traditions­unternehme­n wie die Kaffee-Konditorei Groissböck, berühmt für ihre Krapfen. Direkt am Reumannpla­tz hinter rot-weißen Markisen liegt auch der Wiener Traditions­eissalon Tichy. Eine übermächti­ge Kon- kurrenz? Nein, sein veganes Frozen Yoghurt habe nur wenig mit Speiseeis zu tun. Oft hört Koc, dass seine Bar besser in die Neubaugass­e oder anderswo im siebten Bezirk passen würde. Er sieht das anders. „Hier haben viele Menschen zwar noch kein ausgeprägt­es Ernährungs­bewusstsei­n, achten aber sehr auf ihr Aussehen.“Dieses Publikum, das er auch mit Proteinsäf­ten wie dem Mr. Universum, der unter anderem Hanfprotei­ne beinhaltet, zu überzeugen versucht, ist in Bobotown eher rar.

Selbst wohnt Koc im nobleren Hietzing und pendelt jeden Tag aufs Neue zum Reumannpla­tz. „Mich fasziniert dieses Grätzel. Es zählt zu den Urwiener Bezirken und ist gleichzeit­ig Multikulti.“Obwohl beim Reumannpla­tz Welten, Nationen und Kulturen aufeinande­rprallten, funktionie­re das Zusammenle­ben. Man kenne sich eben. Wie um das zu beweisen, geht in diesem Moment ein junger Mann vorbei. Ein Freund und Mitarbeite­r, erklärt der Inhaber nach kurzer Umarmung. Manchmal ist auch der zehnte Hieb einfach nur ein Dorf.

 ?? [ Dimo Dimov] ?? Lebendig statt lauschig: Zwischen Viktor-Adler-Markt und Reumannpla­tz ist selten eine Ruh’.
[ Dimo Dimov] Lebendig statt lauschig: Zwischen Viktor-Adler-Markt und Reumannpla­tz ist selten eine Ruh’.

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