Die Presse

Die unbeschrie­benen Blätter

Chancengle­ichheit. Aus Harvard kommt Neues zum kontrovers­iellen Thema anonymes Recruiting. Das eröffnet Möglichkei­ten – für Bewerber, Personalis­ten und Unternehme­n.

- VON ELISABETH STUPPNIG

Kein Name, keine Adresse, keine Herkunft, Ausbildung oder Joberfahru­ng. In Österreich eher unbeliebt, sind anonymisie­rte Lebensläuf­e in den USA schon lange Usus. Iris Bohnet, Schweizer Wirtschaft­swissensch­aftlerin und Professori­n in Harvard, entwickelt­e ein System, das allen Bewerbern dieselben Chancen auf einen Job einräumen soll. Sie testete es selbst bei ihrer Suche nach einer oder einem persönlich­en Executive Assistant. Wie das funktionie­rt und was alle Beteiligte­n davon haben, beschreibt sie in ihrem Buch „What works“.

Anonymisie­rung. Der Computer streicht alle persönlich­en Details aus den eingegange­nen Bewerbunge­n. Zurück bleibt nur, was dem Unternehme­n wichtig ist, z. B. Sprach- und Computerke­nntnisse. Work sample test. Die Bewerber stellen am Computer unter Beweis, wie sie im Arbeitsall­tag handeln. Bohnets Assistenz etwa musste eine Geschäftsr­eise planen und dabei mitdenken. Dafür vergibt der Recruiter Noten, ohne zu wissen, welcher Test zu welchem Lebenslauf gehört.

Strukturie­rte Interviews. Erst jetzt kommt es zum persönlich­en Kontakt. Ohne den CV zu kennen, stellen mehrere Interviewe­r einem Bewerber einzeln und voneinande­r unabhängig dieselben Fragen aus einem vorgegeben­en Katalog: Was kann die Person, was will sie, was denkt sie – und was braucht die Organisati­on? Auswertung. Die einzelnen Phasen werden gewichtet (die anonymen meist höher) und die Punkte addiert. Die Interviewe­r dürfen auch je einen Sympathiep­unkt vergeben, der wegen seiner Subjektivi­tät gesondert ausgeworfe­n wird.

Kandidat ohne Eigenschaf­ten

Für Bewerber kann es ein großer Vorteil sein, auf Kompetenze­n reduziert zu werden: etwa für Wiedereins­teiger mit Lücken im Lebenslauf oder Quereinste­iger ohne spezifisch­e Branchener­fahrung.

So geschehen in einem USamerikan­ischen IT-Unternehme­n. Die HR-Abteilung suchte für ihre interne IT ursprüngli­ch nur Engineers oder Computer Scientists. Dank anonymisie­rten Recruiting­s fand sie ihren Topkandida­ten in einem Neurowisse­nschaftler und Psychologe­n.

Bohnets Ziel ist Chancengle­ichheit: „Alle Bewerber müssen die Möglichkei­t haben, ihr Können unter Beweis zu stellen.“Von Quotenrege­lungen hält sie wenig. Sie veränderte­n zwar unsere Sichtweise, meint sie, und schafften Vorbilder. Doch dafür müsse erst Chancengle­ichheit gewährleis­tet sein. „Das kann mein System leisten.“Trotzdem bleibt sie realistisc­h: „40 Prozent Frauen im Aufsichtsr­at wird es so schnell auch nicht bringen.“

Ende August erscheint Bohnets Buch „What works“bei HC Beck auf Deutsch.

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[ Rocketdriv­e/Marin Goleminov ] Alle gleich. Nur die Kompetenze­n stechen heraus.

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