Komlosy: Die andere Mauer
Trump gebührt das Verdienst, klar auszusprechen: Investitionen im Land zu halten oder sie zurückzuholen erfordert politische Steuerung.
Zollwache zum Schutz ihrer Industrien in Stellung zu bringen. – Deutschland und die USA hingegen konnten sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz im Sinne des „Erziehungszolls“hinter protektionistischen Mauern von Zollverein beziehungsweise Reichsgründung sowie der Union einer immer größeren Zahl von Staaten als ernst zu nehmende Herausforderer Großbritanniens etablieren. Ihr industrieller Aufschwung, den sie der erfolgreichen Entwicklung neuer Leitsektoren, Technologien und Arbeitsregime verdankten, ließ auch sie nach neuen Beschaffungs- und Absatzmärkten Ausschau halten. Abgesehen von den Erweiterungsräumen der Deutschen im Osten und der USAmerikaner im Westen ihrer Kontinente, bedeutete dies die deutsche Beteiligung am „Scramble for Africa“, während die USA die Herrschaft über die ehemals spanischen Kolonien Kuba, Philippinen und Puerto Rico übernahmen. Sobald sich die britischen Eliten Ende des 19. Jahrhunderts der Endlichkeit ihrer globalen Führungsrolle bewusst wurden, befleißigten sich Politik, Wissenschaft und Presse der „Greatness“-Metapher, wobei der Vergleich mit dem imperialen Rom eine zentrale Rolle spielte.
Die Konkurrenz der Großmächte um koloniale Erweiterungsräume führte zu zwei Weltkriegen, die Nachkriegsordnungen mischten die Karten neu. Erst mit dem Zweiten Weltkrieg gingen die USA als führende Ökonomie vom Isolationismus zur globalen Ordnungsmacht über, die mit Dollar, Militär und dem „American Way of Life“Druck auf Verallgemeinerung des Freihandels machte. Weltweite Geltung erhielt dieser freilich erst nach dem Ende des Sowjetblocks, also zu einem Zeitpunkt, als das „Amerikanische Jahrhundert“bereits im Niedergang war und die Volksrepublik China zum Aufstieg ansetzte – nun allerdings mit dem Instrumentarium, das ihr die europäischen Industrieländer im Rahmen der Globalisierung der Güterketten seit der Weltwirtschaftskrise der 1970er-Jahre zugewiesen hatten. In Europa hingegen setzte die Auseinandersetzung um die hegemoniale Nachfolge der USA einen Vertiefungs- und Erweiterungsprozess der Europäischen Union in Gang, der als supranationale Variante eines Protektionismus mit neomerkantilistischen Zügen angesehen werden kann.
Auch wenn der wirtschaftliche Aufstieg von Staaten oder Bündnissen des globalen Südens keineswegs als ausgemachte Sache angesehen werden kann: Der Glanz der alten Welt ist verblasst, der Niedergang der globalen Vorherrschaft der westlichen Industrieländer unübersehbar. Die höchsten Türme, die extravagantesten Museen und Opernhäuser, die innovativsten Verkehrsund Infrastrukturprojekte, die Steigerungsrate ökonomischer Kennziffern von Industrieproduktion, Export und Sozialprodukt konzentrieren sich zwischen Dubai, Mumbai und Shanghai. Die alten Industrieländer, die im Zuge der Verlagerung der industriellen Massenproduktion in Newly Industrializing Countries (NIC) wohl korrekter als ehemalige bezeichnet werden sollten, erleben Stagnation und Krise. Deindustrialisierung lässt alte Industrieregionen und Montanreviere, die sogenannten Rust Belts, ohne jede Hoffnung.
Die neuen Leitsektoren von IT bis Biotechnologie konzentrieren sich den Verheißungen der Deterritorialisierung zum Trotz in den urbanen Räumen. Unter dem Wettbewerbsdruck der NICs haben sie die Beschäftigungsverhältnisse liberalisiert und Flexibilität zum Inbegriff des sozialen Aufstiegs gemacht. Das Wachstum von Finanzinvestitionen auf Kosten von Realinvestitionen trägt seinerseits zur Blasenbildung bei, die Staaten auf Bankenrettung und Austerität festlegt.
In den Ländern der Europäischen Union ist der Anteil der verarbeitenden Industrie zwischen 2000 und 2012 von 19 Prozent auf 15 Prozent der Bruttowertschöpfung gesunken. Im Spitzenfeld stehen Tschechien, Irland, Ungarn und Deutschland (über 20 Prozent), die Schlusslichter bilden Griechenland, Frankreich und das Vereinigte Königreich (zehn Prozent). Was bis vor Kurzem noch als Strukturdefizit gesehen wurde, gilt heute als Rückversicherung, zumindest dann, wenn es sich nicht um verlängerte Werkbänke und Auftragsfertigung handelt, wie dies im osteuropäischen Autocluster der Fall ist, der für deutsche, US-, japanische und koreanische Konzerne fertigt. In diesem Fall ist das Wachstum ebenso trügerisch wie in der Auftragsfertigung für Elektronik- oder Bekleidungsketten, die die fleißigen Hände von Polinnen, Rumäninnen oder Bulgarinnen nützen.
Unabhängig von diesen qualitativen Unterschieden hat sich die EU-Kommission 2012 das Ziel gesetzt, den Industrieanteil bis 2020 auf 20 Prozent zu erhöhen. Erreicht werden soll dies aus einem Mix aus neuen Technologien, intelligenten Produktion, Unternehmensförderung und Investitionen in Humankapital. Von Protektionismus ist dabei keine Rede, setzt das Programm doch auf den Ausbau von Forschung und Entwicklung, Firmenzentralen und Leitungsfunktionen sowie jenen Teilen der Güterkette, die, der Zauberformel Industrie 4.0 folgend, immer mehr Arbeit den Maschinen überlässt, die von qualifizierten ArbeiterInnen im Zentrum gesteuert werden. Der Rückbau der globalen Güterketten soll den NICs die Grundlage entziehen, eine zunächst niedrige Position in der Kette zum Upgrading zu nutzen, wie dies zuerst die Tigerstaaten machten und nun China vorführt. Von Protektionismus darf auch keine Rede sein, wollen die europäischen Produzenten die hier gefertigte Ware doch weltweit absetzen.
Auch das US-Pendant zur Reindustrialisierungsstrategie des „Make Europe Great Again“stand bereits lange vor Donald Trumps Präsidentschaftskandidatur im Raum. Es war eine naheliegende Antwort auf die soziale Misere, die die alten Industriestädte zu Geisterstädten werden ließ und die Trailer Parks mit Wohnmobilen auf dem flachen Land zur einzig erschwinglichen Wohnstätte für Working Poor machte. Wie zur Zeit des Hegemonialverlusts Großbritanniens wurde die Wiedererlangung industrieller Kapazität mit dem Ruf nach „Greatness“verknüpft.
Trumps Pläne, die alten Industriereviere und die Verkehrsinfrastruktur wieder aufleben zu lassen, liegen also ganz im Trend. Der Westen versucht teilweise geeint, teilweise in gegenseitiger Konkurrenz das Terrain, das durch die von den multinationalen Konzernen in Gang gesetzte Verlagerung der industriellen Massenproduktion in Billiglohnländer verloren gegangen ist, wettzumachen. Dies lässt sich mit einer Freihandelsdoktrin nicht bewerkstelligen. Trump gebührt das Verdienst, dies klar auszusprechen: Investitionen im Land zu halten oder sie zurückzuholen erfordert politische Gegensteuerung gegen die Freiheit des Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehrs in Sinne einer Vorrangregel für den Binnenmarkt.
Ob sich der US-Präsident der Konsequenzen bewusst ist, die die aus dem Rückbau des globalen Standortwettbewerbs zu erwartende Regionalisierung mit sich bringt, ist unklar. Die großen Schwellenländer, die sich als neue Global Players in Stellung bringen wollen, sind sich indes der Kampfansage bewusst. Nicht auszuschließen ist freilich, dass sie den Ball auffangen und ihrerseits ihre Binnenmärkte zur Priorität erheben: Dann müssten die wieder erstarkenden ehemaligen Industrieländer in Nordamerika und Westeuropa ihre neomerkantilistische Strategie der „Greatness“aufgeben und sich damit begnügen, eine gleichberechtigte Rolle in einer multipolaren Welt einzunehmen.