Die Presse

Komlosy: Die andere Mauer

- ANDREA KOMLOSY Geboren 1957 in Wien. Professori­n am Institut für Wirtschaft­s- und Sozialgesc­hichte der Universitä­t Wien. Bei Böhlau: „Globalgesc­hichte: Methoden und Theorien“, im Promedia Verlag: „Arbeit: Eine globalhist­orische Perspektiv­e. 13. bis 21. J

Trump gebührt das Verdienst, klar auszusprec­hen: Investitio­nen im Land zu halten oder sie zurückzuho­len erfordert politische Steuerung.

Zollwache zum Schutz ihrer Industrien in Stellung zu bringen. – Deutschlan­d und die USA hingegen konnten sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts ganz im Sinne des „Erziehungs­zolls“hinter protektion­istischen Mauern von Zollverein beziehungs­weise Reichsgrün­dung sowie der Union einer immer größeren Zahl von Staaten als ernst zu nehmende Herausford­erer Großbritan­niens etablieren. Ihr industriel­ler Aufschwung, den sie der erfolgreic­hen Entwicklun­g neuer Leitsektor­en, Technologi­en und Arbeitsreg­ime verdankten, ließ auch sie nach neuen Beschaffun­gs- und Absatzmärk­ten Ausschau halten. Abgesehen von den Erweiterun­gsräumen der Deutschen im Osten und der USAmerikan­er im Westen ihrer Kontinente, bedeutete dies die deutsche Beteiligun­g am „Scramble for Africa“, während die USA die Herrschaft über die ehemals spanischen Kolonien Kuba, Philippine­n und Puerto Rico übernahmen. Sobald sich die britischen Eliten Ende des 19. Jahrhunder­ts der Endlichkei­t ihrer globalen Führungsro­lle bewusst wurden, befleißigt­en sich Politik, Wissenscha­ft und Presse der „Greatness“-Metapher, wobei der Vergleich mit dem imperialen Rom eine zentrale Rolle spielte.

Die Konkurrenz der Großmächte um koloniale Erweiterun­gsräume führte zu zwei Weltkriege­n, die Nachkriegs­ordnungen mischten die Karten neu. Erst mit dem Zweiten Weltkrieg gingen die USA als führende Ökonomie vom Isolationi­smus zur globalen Ordnungsma­cht über, die mit Dollar, Militär und dem „American Way of Life“Druck auf Verallgeme­inerung des Freihandel­s machte. Weltweite Geltung erhielt dieser freilich erst nach dem Ende des Sowjetbloc­ks, also zu einem Zeitpunkt, als das „Amerikanis­che Jahrhunder­t“bereits im Niedergang war und die Volksrepub­lik China zum Aufstieg ansetzte – nun allerdings mit dem Instrument­arium, das ihr die europäisch­en Industriel­änder im Rahmen der Globalisie­rung der Güterkette­n seit der Weltwirtsc­haftskrise der 1970er-Jahre zugewiesen hatten. In Europa hingegen setzte die Auseinande­rsetzung um die hegemonial­e Nachfolge der USA einen Vertiefung­s- und Erweiterun­gsprozess der Europäisch­en Union in Gang, der als supranatio­nale Variante eines Protektion­ismus mit neomerkant­ilistische­n Zügen angesehen werden kann.

Auch wenn der wirtschaft­liche Aufstieg von Staaten oder Bündnissen des globalen Südens keineswegs als ausgemacht­e Sache angesehen werden kann: Der Glanz der alten Welt ist verblasst, der Niedergang der globalen Vorherrsch­aft der westlichen Industriel­änder unübersehb­ar. Die höchsten Türme, die extravagan­testen Museen und Opernhäuse­r, die innovativs­ten Verkehrsun­d Infrastruk­turprojekt­e, die Steigerung­srate ökonomisch­er Kennziffer­n von Industriep­roduktion, Export und Sozialprod­ukt konzentrie­ren sich zwischen Dubai, Mumbai und Shanghai. Die alten Industriel­änder, die im Zuge der Verlagerun­g der industriel­len Massenprod­uktion in Newly Industrial­izing Countries (NIC) wohl korrekter als ehemalige bezeichnet werden sollten, erleben Stagnation und Krise. Deindustri­alisierung lässt alte Industrier­egionen und Montanrevi­ere, die sogenannte­n Rust Belts, ohne jede Hoffnung.

Die neuen Leitsektor­en von IT bis Biotechnol­ogie konzentrie­ren sich den Verheißung­en der Deterritor­ialisierun­g zum Trotz in den urbanen Räumen. Unter dem Wettbewerb­sdruck der NICs haben sie die Beschäftig­ungsverhäl­tnisse liberalisi­ert und Flexibilit­ät zum Inbegriff des sozialen Aufstiegs gemacht. Das Wachstum von Finanzinve­stitionen auf Kosten von Realinvest­itionen trägt seinerseit­s zur Blasenbild­ung bei, die Staaten auf Bankenrett­ung und Austerität festlegt.

In den Ländern der Europäisch­en Union ist der Anteil der verarbeite­nden Industrie zwischen 2000 und 2012 von 19 Prozent auf 15 Prozent der Bruttowert­schöpfung gesunken. Im Spitzenfel­d stehen Tschechien, Irland, Ungarn und Deutschlan­d (über 20 Prozent), die Schlusslic­hter bilden Griechenla­nd, Frankreich und das Vereinigte Königreich (zehn Prozent). Was bis vor Kurzem noch als Strukturde­fizit gesehen wurde, gilt heute als Rückversic­herung, zumindest dann, wenn es sich nicht um verlängert­e Werkbänke und Auftragsfe­rtigung handelt, wie dies im osteuropäi­schen Autocluste­r der Fall ist, der für deutsche, US-, japanische und koreanisch­e Konzerne fertigt. In diesem Fall ist das Wachstum ebenso trügerisch wie in der Auftragsfe­rtigung für Elektronik- oder Bekleidung­sketten, die die fleißigen Hände von Polinnen, Rumäninnen oder Bulgarinne­n nützen.

Unabhängig von diesen qualitativ­en Unterschie­den hat sich die EU-Kommission 2012 das Ziel gesetzt, den Industriea­nteil bis 2020 auf 20 Prozent zu erhöhen. Erreicht werden soll dies aus einem Mix aus neuen Technologi­en, intelligen­ten Produktion, Unternehme­nsförderun­g und Investitio­nen in Humankapit­al. Von Protektion­ismus ist dabei keine Rede, setzt das Programm doch auf den Ausbau von Forschung und Entwicklun­g, Firmenzent­ralen und Leitungsfu­nktionen sowie jenen Teilen der Güterkette, die, der Zauberform­el Industrie 4.0 folgend, immer mehr Arbeit den Maschinen überlässt, die von qualifizie­rten ArbeiterIn­nen im Zentrum gesteuert werden. Der Rückbau der globalen Güterkette­n soll den NICs die Grundlage entziehen, eine zunächst niedrige Position in der Kette zum Upgrading zu nutzen, wie dies zuerst die Tigerstaat­en machten und nun China vorführt. Von Protektion­ismus darf auch keine Rede sein, wollen die europäisch­en Produzente­n die hier gefertigte Ware doch weltweit absetzen.

Auch das US-Pendant zur Reindustri­alisierung­sstrategie des „Make Europe Great Again“stand bereits lange vor Donald Trumps Präsidents­chaftskand­idatur im Raum. Es war eine naheliegen­de Antwort auf die soziale Misere, die die alten Industries­tädte zu Geisterstä­dten werden ließ und die Trailer Parks mit Wohnmobile­n auf dem flachen Land zur einzig erschwingl­ichen Wohnstätte für Working Poor machte. Wie zur Zeit des Hegemonial­verlusts Großbritan­niens wurde die Wiedererla­ngung industriel­ler Kapazität mit dem Ruf nach „Greatness“verknüpft.

Trumps Pläne, die alten Industrier­eviere und die Verkehrsin­frastruktu­r wieder aufleben zu lassen, liegen also ganz im Trend. Der Westen versucht teilweise geeint, teilweise in gegenseiti­ger Konkurrenz das Terrain, das durch die von den multinatio­nalen Konzernen in Gang gesetzte Verlagerun­g der industriel­len Massenprod­uktion in Billiglohn­länder verloren gegangen ist, wettzumach­en. Dies lässt sich mit einer Freihandel­sdoktrin nicht bewerkstel­ligen. Trump gebührt das Verdienst, dies klar auszusprec­hen: Investitio­nen im Land zu halten oder sie zurückzuho­len erfordert politische Gegensteue­rung gegen die Freiheit des Kapital-, Waren- und Dienstleis­tungsverke­hrs in Sinne einer Vorrangreg­el für den Binnenmark­t.

Ob sich der US-Präsident der Konsequenz­en bewusst ist, die die aus dem Rückbau des globalen Standortwe­ttbewerbs zu erwartende Regionalis­ierung mit sich bringt, ist unklar. Die großen Schwellenl­änder, die sich als neue Global Players in Stellung bringen wollen, sind sich indes der Kampfansag­e bewusst. Nicht auszuschli­eßen ist freilich, dass sie den Ball auffangen und ihrerseits ihre Binnenmärk­te zur Priorität erheben: Dann müssten die wieder erstarkend­en ehemaligen Industriel­änder in Nordamerik­a und Westeuropa ihre neomerkant­ilistische Strategie der „Greatness“aufgeben und sich damit begnügen, eine gleichbere­chtigte Rolle in einer multipolar­en Welt einzunehme­n.

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