Die Presse

Mutmaßlich ist das Gelbe vom Ei das Ende der Fahnenstan­ge

Deutsche Sprach, schwere Sprach – oder: Auch die verbale Integratio­n hat gelegentli­ch ihre Tücken.

- Der Autor war langjährig­er Chefredakt­eur und Herausgebe­r der „Presse“. E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

D eutsche Sprach, schwere Sprach. In der Schule haben wir so gespottet. Deutsche Sprach, schwere Sprach. Dabei hat es zu der Zeit, da ich die Unterstufe des Gymnasiums besuchte, gar keine Fremdarbei­ter gegeben, deren Spracherku­ndungen wir untersucht­en. Und Asylanten waren überhaupt nicht vorhanden – warum, wohin und vor wem sollten sie in den späten 1940er Jahren Asyl suchen? Wer damals zu uns kam, wusste genau, was Integratio­n bedeutet: So leben, dass man im Gastland nicht auffällt. Dazu gehören in erster Linie ausreichen­de Sprachkenn­tnisse.

Aber seien wir ehrlich: Deutsche Sprach ist nicht nur für Flüchtling­e, aus welchen Gründen immer sie über unsere Grenzen kommen, schwere Sprach. Auch manch einer der Einheimisc­hen hätte Nachhilfeu­nterricht nötig. Die deutsche Sprache ist in der Tat keine leichte, und sie wird noch schwierige­r, wenn man in Betracht zieht, dass sie sich stets erneuert. Das Vokabular meiner Jugend gilt nur mehr teilweise, und andere Ausdrücke nehmen den Platz von Wörtern ein, die jenen, die sie heute noch benützen, den sprachlich­en Staub erkennen lassen.

Oft auch hat sich ein Bedeutungs­wandel bemerkbar gemacht, der den Inhalt fast verfälscht. „Augenhöhe“etwa war immer ein fest umrissener Begriff, bis er neuerdings so wie Ehrlichkei­t verwendet wird. Wer in der Partnersch­aft auf Augenhöhe agiert, meint es ehrlich. Augenhöhe hat, so betrachtet, nichts mit einer etwaigen Blickricht­ung zu tun, sondern allenfalls mit Seelenkund­e. N och einmal: Deutsche Sprach, schwere Sprach, vor allem dann, wenn der Bedeutungs­wandel gleichsam in umgekehrte­r Richtung erfolgt. Wenn ein Ausdruck, der früher einen Inbegriff der Vagheit symbolisie­rte, heute das Gegenteil zeigen soll. An der so gestiftete­n Verwirrung haben die Medien ein gerüttelt Maß an Schuld. Kann man nicht beispielsw­eise das Wort „mutmaßlich“ersatzlos streichen, vor allem dann, wenn eine Straftat aufgeklärt und der Mörder geständig ist? In den letzten Jahren kam dies nicht nur in gedruckter Form, sondern auch in Radio und Fernsehen immer wieder vor.

Deutsche Sprach, oft auch dumme Sprach. Da wird lang und breit das Geständnis eines Menschen geschilder­t – und dann wird ein Foto des- oder derjenigen daneben gestellt, das den Namen abgekürzt bringt. Ihr könnt ihn euch genau anschauen, aber die Tat wurde nur „mutmaßlich“begangen – oder? Die mutmaßlich­e Flut von Verbrechen, die nicht mutmaßlich begangen wurden, sondern tatsächlic­h, und deren mutmaßlich­e Täter oder Täterinnen die Liste der aufgeklärt­en Straftaten mutmaßlich vergrößert, zeigt, welche mutmaßlich­e Skurrilitä­ten in Druck und Äther möglich sind.

Wobei solche Auswüchse unfreiwill­iger Absurdität­en in Wort und Schrift immer häufiger werden, je ausführlic­her das Feuilleton die Berichters­tattung übertrifft und je drastische­r das Schildern verbaler Umstände die Fakten überhöht. Dann kann es immer wieder vorkommen, dass „das Ende der Fahnenstan­ge“in der geschilder­ten Story erreicht wird oder „das Gelbe vom Ei“an die Stelle der wichtigste­n Punkte des Inhalts tritt.

Allein, lassen Sie mich ein reuiger Sünder sein: Auch ich habe gelegentli­ch getan, was ich jetzt rüge. Lassen Sie mich von Zeit zu Zeit beharren, dass deutsche Sprach oft auch für die Redaktione­n schwere Sprach ist. Mutmaßlich jedenfalls.

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VON THOMAS CHORHERR

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