Mutmaßlich ist das Gelbe vom Ei das Ende der Fahnenstange
Deutsche Sprach, schwere Sprach – oder: Auch die verbale Integration hat gelegentlich ihre Tücken.
D eutsche Sprach, schwere Sprach. In der Schule haben wir so gespottet. Deutsche Sprach, schwere Sprach. Dabei hat es zu der Zeit, da ich die Unterstufe des Gymnasiums besuchte, gar keine Fremdarbeiter gegeben, deren Spracherkundungen wir untersuchten. Und Asylanten waren überhaupt nicht vorhanden – warum, wohin und vor wem sollten sie in den späten 1940er Jahren Asyl suchen? Wer damals zu uns kam, wusste genau, was Integration bedeutet: So leben, dass man im Gastland nicht auffällt. Dazu gehören in erster Linie ausreichende Sprachkenntnisse.
Aber seien wir ehrlich: Deutsche Sprach ist nicht nur für Flüchtlinge, aus welchen Gründen immer sie über unsere Grenzen kommen, schwere Sprach. Auch manch einer der Einheimischen hätte Nachhilfeunterricht nötig. Die deutsche Sprache ist in der Tat keine leichte, und sie wird noch schwieriger, wenn man in Betracht zieht, dass sie sich stets erneuert. Das Vokabular meiner Jugend gilt nur mehr teilweise, und andere Ausdrücke nehmen den Platz von Wörtern ein, die jenen, die sie heute noch benützen, den sprachlichen Staub erkennen lassen.
Oft auch hat sich ein Bedeutungswandel bemerkbar gemacht, der den Inhalt fast verfälscht. „Augenhöhe“etwa war immer ein fest umrissener Begriff, bis er neuerdings so wie Ehrlichkeit verwendet wird. Wer in der Partnerschaft auf Augenhöhe agiert, meint es ehrlich. Augenhöhe hat, so betrachtet, nichts mit einer etwaigen Blickrichtung zu tun, sondern allenfalls mit Seelenkunde. N och einmal: Deutsche Sprach, schwere Sprach, vor allem dann, wenn der Bedeutungswandel gleichsam in umgekehrter Richtung erfolgt. Wenn ein Ausdruck, der früher einen Inbegriff der Vagheit symbolisierte, heute das Gegenteil zeigen soll. An der so gestifteten Verwirrung haben die Medien ein gerüttelt Maß an Schuld. Kann man nicht beispielsweise das Wort „mutmaßlich“ersatzlos streichen, vor allem dann, wenn eine Straftat aufgeklärt und der Mörder geständig ist? In den letzten Jahren kam dies nicht nur in gedruckter Form, sondern auch in Radio und Fernsehen immer wieder vor.
Deutsche Sprach, oft auch dumme Sprach. Da wird lang und breit das Geständnis eines Menschen geschildert – und dann wird ein Foto des- oder derjenigen daneben gestellt, das den Namen abgekürzt bringt. Ihr könnt ihn euch genau anschauen, aber die Tat wurde nur „mutmaßlich“begangen – oder? Die mutmaßliche Flut von Verbrechen, die nicht mutmaßlich begangen wurden, sondern tatsächlich, und deren mutmaßliche Täter oder Täterinnen die Liste der aufgeklärten Straftaten mutmaßlich vergrößert, zeigt, welche mutmaßliche Skurrilitäten in Druck und Äther möglich sind.
Wobei solche Auswüchse unfreiwilliger Absurditäten in Wort und Schrift immer häufiger werden, je ausführlicher das Feuilleton die Berichterstattung übertrifft und je drastischer das Schildern verbaler Umstände die Fakten überhöht. Dann kann es immer wieder vorkommen, dass „das Ende der Fahnenstange“in der geschilderten Story erreicht wird oder „das Gelbe vom Ei“an die Stelle der wichtigsten Punkte des Inhalts tritt.
Allein, lassen Sie mich ein reuiger Sünder sein: Auch ich habe gelegentlich getan, was ich jetzt rüge. Lassen Sie mich von Zeit zu Zeit beharren, dass deutsche Sprach oft auch für die Redaktionen schwere Sprach ist. Mutmaßlich jedenfalls.