Die Akte Figen Yüksekda˘g
Türkei. Die Justiz will die Parteivorsitzende der linken HDP lebenslang hinter Gittern wissen – und zerlegt nun vor Gericht ihre Reden. Der Prozess sei eine Farce, sagt ihre Anwältin der „Presse“.
Wien/Istanbul. Sie steht im Schatten von Selahattin Demirtas,¸ wiewohl sie eine ihm ebenbürtige Position in der Partei bekleidet: Figen Yüksekdag˘ ist gemeinsam mit Demirtas¸ Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker, HDP, und beide befinden sich seit November in türkischer Haft. Als prokurdische Partei und als schärfste Kritikerin der AKP ist die HDP seit ihrem Einzug in das Parlament im November 2015 ins Visier der Regierung geraten. Insgesamt ein Dutzend ihrer Abgeordneten sitzen derzeit ein, so auch Hunderte Lokalpolitiker.
Ankara sieht die HDP als verlängerten Arm der kurdisch-terroristischen PKK und will die Parteichefs lebenslang hinter Gittern wissen – mehr als 220 Jahre lang, um genau zu sein. Dabei ist juristisch, aber auch persönlich die Akte Yüksekdag˘ besonders bemerkenswert. „Zunächst einmal repräsentiert sie die Frauen in der Partei“, sagt ihre Anwältin Gülseren Yoleri der „Presse“, „außerdem ist sie eine Türkin. Dass sie sich als solche für Kurden einsetzt, kann die Regierung nicht verdauen.“Jüngst wurde Yüksekdag˘ ihr Status als Parlamentsabgeordnete aberkannt – ein Novum in der türkischen Republikgeschichte. Darüber hinaus hat die Justiz sie ihres Amtes als Parteivorsitzende enthoben, die HDP akzeptiert das Urteil jedoch nicht.
Begräbnis einer Attentäterin
Yüksekdag,˘ Jahrgang 1971, entstammt einer kinderreichen Familie nahe Adana. In politischer Hinsicht verlief ihre Jugend turbulent: Yüksekdags˘ Familie ist nationalistisch gesinnt und großteils gläubig, in den Sommermonaten besuchte sie Korankurse. Später schloss sie sich sozialistischen Gruppen an und kappte jahrelang die Verbindung zu ihrer Familie. Als die AKPRegierung noch hinter dem Friedensprozess mit den Kurden stand, wurde Yüksekdags˘ Geschichte von Zeitung zu Zeitung gereicht. Heute wird sie in parteinahen Medien als Terrorpatin dargestellt. Tatsächlich hat die HDP oft Schwierigkeiten, sich von der PKK loszulösen, so progressiv die Parteiagenda auch ausgerichtet ist (Themen wie Gleichberechtigung der Geschlechter oder Minderheiten- und Homosexuellenrechte sind in den Statuten festgeschrieben).
In einem Interview mit der deutschen FAZ meinte Yüksekdag:˘ Die PKK habe eine Basis, „und das sind unsere Wähler“. Allerdings würden sich die Menschen in den Kurdenregionen nach einer politischen Alternative sehnen. Ihre Partei sei jedenfalls keine Verlängerung der verbotenen PKK, Gewalt lehnt die HDP ab.
Nach der Aufhebung ihrer Immunität hat ein Gericht die Parteivorsitzende vergangenen November zu zehn Monaten Haft verurteilt. Vor fünf Jahren hatte sie am Begräbnis der Selbstmordattentäterin Yasemin C¸iftc¸i teilgenommen, die sich vor einem AKP-Gebäude in die Luft sprengte. Die junge Frau war Mitglied der marxistisch-kommunistischen Partei, hat also dieselben politischen Wurzeln wie Yüksekdag.˘ Schließlich wurde ihr ihre Rede beim Begräbnis zum Verhängnis: Den Weg, den Yasemin beschritten habe, werde man fortsetzen. Die Justiz legt das als Aufruf zu Selbstmordattentaten aus. Infolgedessen verlor Yüksekdag˘ ihren Status als Abgeordnete.
Alle anderen Verfahren gegen die Parteivorsitzende – derzeit sind es rund 35 – laufen nach demselben Muster, erzählt ihre Anwältin Yoleri. Ihre öffentlichen Reden bei Versammlungen und Parteisitzungen würden im Nachhinein so ausgelegt und verdreht, dass sie als Terrorpropaganda gelten würden.
So habe Yüksekdag˘ bei einer Rede den Namen Salih Muslim erwähnt, Parteichef der syrischen PYD und Schwesternorganisation der PKK. Diese Rede sei nun ein eigener Fall. Neben Terrorpropaganda wird ihr Mitgliedschaft in terroristischen Organisationen vorgeworfen, aber auch Beleidigung von Regierungsmitgliedern. „Die Taktik der Gerichte ist, sie in vielen Fällen schnell zu verurteilen, damit sie im Gefängnis bleibt“, sagt Yoleri.
Gericht komplett gefeuert
Insgesamt seien die Prozesse eine Farce. Die Richter, die Yüksekdag˘ zu zehn Monaten Haft verurteilt haben, wurden mittlerweile komplett des Amtes enthoben: Ihnen wird vorgeworfen, Teil der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen zu sein, der hinter dem Putschversuch von vergangenem Juli stecken soll. Auch mehrere HDP-Anwälte sind zeitweise in Polizeigewahrsam gelandet, die Partei wertet das als Einschüchterungsversuch. Auch sei es vorgekommen, dass Yüksekdags˘ Fälle von Stadt zu Stadt weitergereicht worden sind, weil sich niemand zuständig sah.
„Oft erfahren wir bei der Anhörung eines Falles von einem neu eröffneten Fall“, sagt Yoleri, „und dann haben wir nur ein oder zwei Tage Zeit, uns vorzubereiten.“Die Anwältin rechnet nicht damit, dass Yüksekdag˘ bald freikommen wird. Die Justiz spiele der Regierung in die Hände. „Und die Regierung denkt nicht daran, sich an juristische Vorgaben zu halten.“