Ein Wettlauf um die Demontage der EU
Frankreich. Eine klare Mehrheit der elf Präsidentschaftskandidaten mobilisiert die Wähler mit EU-Kritik oder mit Programmen, die dem Unionsrecht widersprechen.
Paris. In der Europapolitik geht die Trennlinie bei den elf französischen Präsidentschaftskandidaten quer durch die Lager von Links und Rechts. Fast alle von ihnen versuchen sich mit EU-Ablehnung, EU-Skepsis oder geforderten EU-Reformen zu profilieren. Der einzige unter den Kandidaten, der sich noch traut, mit den Errungenschaften und Perspektiven der Integration Europas Kampagne zu machen und in seinen Veranstaltungen EU-Sternenbanner schwenken zu lassen, ist ein Mann, der bezeichnenderweise für sich die Mitte beansprucht: Ex-Wirtschaftsminister Emmanuel Macron.
Der Konservative Francois¸ Fillon versucht eine Gleichgewichtsübung: Ausgehend von der allgemeinen Feststellung, dass die EU aufgrund einer „tiefen Krise“in einer „Sackgasse“stecke, wünscht er einerseits eine Konzentration auf die Eurozone und zugleich neue Prioritäten in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung. Tiefgreifende Änderungen, die an die Substanz der jetzigen Gemeinschaft gehen, will auch der Sozialist Benoˆıt Hamon. Wie die Veränderung der Institutionen erreicht werden soll, bleiben freilich beide schuldig.
Die übrigen acht Kandidaten stehen der EU, zumindest in ihrer heutigen Form sehr kritisch bis offen ablehnend gegenüber. Auch in dieser Gruppe, lehnen es mehrere Kandi- daten, wie die Rechtspopulistin Marine Le Pen oder der im Ausland völlig unbekannte Souveränist Francois¸ Asselineau, jedoch ab, in der zweidimensionalen Bandbreite links oder rechts etikettiert zu werden.
Man kann daraus schließen, dass es heutzutage in Frankreich leichter ist, als Präsidentschaftskandidat gegen die EU auf Stimmenfang zu gehen als sich für eine Ideologie stark zu machen. Während Außenseiter wie Asselineau oder Jacques Cheminade klipp und klar einen Austritt aus der EU,
aus dem Euro oder auch aus der Nato fordern, drohen der Linkspopulist Jean-Luc Me-´ lenchon und auf der Gegenseite Marine le Pen mit einer Austrittsabstimmung, falls die europäischen Partner nicht einer Neuverhandlung der EU-Verträge zustimmen, die Frankreich mehr Selbstbestimmung gewähren und von der Haushaltsdisziplin des Stabilitätspakts befreien sollen. Der „Frexit“via Referendum soll bei Le Pen wie bei Melen-´ chon zu einem Mittel der politischen Erpressung werden. Beide tragen mit dieser Taktik einer widersprüchlichen öffentlichen Meinung Rechnung.
Mehrheit sieht EU skeptisch
Nach der britischen Abstimmung waren fast ebenso viele Franzosen und Französinnen für (45%) und gegen (44%) einen „Frexit“. Heute meinen laut einer neuen Umfrage 37 Prozent, die EU-Mitgliedschaft bringe mehr Nachteile als Vorteile, 31 Prozent sagen das Gegenteil, und der fast gleich große Rest (32%) denkt, Vor- und Nachteile würden sich in etwa die Waage halten. Beim Euro dagegen ist eine klare Mehrheit von 72 Prozent für die Beibehaltung der Gemeinschaftswährung und gegen eine Rückkehr zum Franc. Die Unzufriedenheit mit den EU-Institutionen und die latente Skepsis verhindert es zudem nicht, dass 87 Prozent die Schaffung einer europäischen Grenzschutzeinheit oder eine engere Zusammenarbeit im Sinne eines Kerneuropas wünschen. 70 Prozent träumen von einer Volkswahl eines EU-Präsidenten.
Diese Umfragen lassen sich in verschiedener Weise interpretieren. Marine Le Pen ist überzeugt, dass eine Mehrheit einen Austritt wünscht oder zumindest dessen eventuelle Folgen nicht fürchtet. Die Europafrage erlaubt es ihr und den meisten anderen Kandidaten, sich als entschiedenste Gegner oder sogar Opfer des heutigen Systems zu profilieren. Wer dagegen offen für die EU Stellung bezieht, setzt sich in Frankreich dem Verdacht aus, die bisherige Politik von Präsident Francois¸ Hollande und dessen Vorgänger Nicolas Sarkozy fortsetzen zu wollen.
Offensichtlich ist bei genauerer Betrachtung, dass die Programme der EU-Skeptiker unter den Kandidierenden in vielen Punkten mit den EU-Gesetzen unvereinbar wären. Sowohl protektionistische Handelsbeschränkungen oder Einschränkungen der Personenfreizügigkeit widersprechen dem Gemeinschaftsvertrag.