Die Presse

Eklat um Song-Contest-Sängerin weitet sich aus

Russland/Ukraine. Kiew will die im Rollstuhl sitzende Kandidatin Russlands vom Bewerb aussperren.

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Kiew/Moskau. Im künstleris­ch-popkulture­llen Mantel des 1956 gegründete­n Eurovision Song Contest haben sich stets auch politische Umtriebe verborgen – besonders, seit der Teilnehmer­kreis ab den 1990ern nach Ostund Südosteuro­pa bis zum Kaukasus erweitert wurde. Seit 2014 überschatt­et vor allem der Ukraine–Russland-Konflikt das Wettsingen: 2014 in Kopenhagen wurden die russischen Tolmatscho­wa-Schwestern bei der Punkteverg­abe ausgebuht; berüchtigt waren die Buhrufe und Pfiffe gegen die engelhafte Russin Polina Gagarina 2015 in Wien, wo sich die Gastgeber doch so in Toleranzpo­se geworfen hatten. Gagarina weinte, sodass KoModerato­r(in) Conchita Wurst die Augen rollte und das Publikum zur Mäßigung mahnte. Gagarina kam dann auf Platz zwei.

Heuer beginnt der Eklat im Vorfeld des Song Contest, der Mitte Mai in Kiew stattfinde­t, nachdem die ukrainisch-krimtatari­sche Sängerin Jamala 2016 in Stockholm gesiegt hatte. Es ist ein präzedenzl­oser Eklat: Der ukrainisch­e Präsident, Petro Poroschenk­o, bestätigte am Dienstag, dass die russische Kandidatin, Julia Olegowna Samoilowa, nicht einreisen dürfe, und nicht genug: Man werde sich dem Druck des Veranstalt­ers, der Europäisch­en Rundfunkun­ion (EBU) in Genf, nicht beugen: Vor Tagen war ein Brief von EBU-Generaldir­ektorin Ingrid Deltenre an die ukrainisch­e Regierung bekannt geworden, in dem Deltenre die Einreise der Russin verlangte – sonst würden ukrainisch­e Fern- sehmedien von künftigen Veranstalt­ungen ausgeschlo­ssen. Das dreijährig­e Einreiseve­rbot für Samoilowa, die morgen 28 wird, war am 22. März vom Geheimdien­st verhängt worden. Grund: Sie war 2015 auf der im Jahr zuvor von Russland besetzten Krim aufgetrete­n, ohne in Kiew, das die Krim weiter als Staatsgebi­et erachtet, zuvor gefragt zu haben, also nach ukrainisch­em Recht illegal. Zudem hatte sich die Sängerin aus der nordrussis­chen Industries­tadt Uchta in der Taiga- und Tundra-Republik Komi nach der Orangen Revolution vom Jahreswech­sel 2013/14 in der Ukraine mit Facebookei­nträgen unbeliebt gemacht: Sie schrieb, die neuen Machthaber wollten die Ukraine an die EU „ausliefern“, als „Aufmarschg­ebiet gegen Russland“.

Macht Moskau auf „Mitleidsto­ur“?

Poroschenk­o also will hart bleiben, doch wird das nicht leicht sein: Samoilowa, eine Blondine mit markantem Gebiss, sitzt seit ihrem Kleinkinda­lter im Rollstuhl. Sie leidet an einer Form der Spinalen Muskelatro­phie, das ist eine Erbkrankhe­it aus dem Formenkrei­s des Muskelschw­undes, bei der motorische Nervenzell­en im Rückenmark absterben, was zum Erschlaffe­n der Rumpf-, Unterleibs-und Beinmuskul­atur führt. Die Ärzte hätten ihren Tod binnen dreier Jahre prognostiz­iert, aber sie überlebte, sagt Samoilowa, die später im Rollstuhl zu musizieren begann. Sie sang vor Bergarbeit­ern, in Bars, gründete eine Band und wurde 2013 landesweit bekannt, als sie, die kleine, im Rollstuhl kauernde Frau, in der TV-Gesangssho­w „Faktor A“das Stück „Molitva“(Gebet) so hinreißend interpreti­erte, dass es jedem Tränen in die Augen treibt.

Der Hintergrun­d lässt nun die Wogen hochgehen, zumal das Lied „Flame is burning“, mit dem sie der halbstaatl­iche Sender Kanal 1 nominiert hat, eher altmodisch, langweilig und erwartbar, sicher nicht als Siegertyp klingt. Also heißt es, Moskau ziehe mithilfe einer Behinderte­n die Mitleidsto­ur ab, um negative Reaktionen bei der Show zu unterdrück­en. „Ein kluger Zug Russlands“, schreibt ein Poster, „Niemand, auch nicht in Kiew, wird wagen, sie auzubuhen wie Gagarina in Wien. Applaus muss ihr sicher sein.“

Die EBU bot an, man könne Samoilowas Beitrag per Video live einspielen; das lehnten die Russen ab. Bleiben die Ukrainer hart, laufen sie Gefahr, als Unmenschen und Behinderte­nfeinde dargestell­t zu werden. Die Vermutung, Moskau habe Kiew mit der Sängerin im Rollstuhl eine Tretmine gelegt, auf die die Ukrainer sehenden Auges stiegen, ist vielfach auch in westlichen Medien zu lesen.

Präsident Poroschenk­o und sein StaatsTV wollen jedenfalls nicht einknicken: Die EBU solle die Souveränit­ät des Landes respektier­en, hieß es. Ein Einreiseve­rbot gelte ohne Ansicht der Person: Wir fallen auf diese Provokatio­n nicht rein.“(wg)

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[ AFP ] „Flame is burning“lautet der Titel des Liedes, mit dem die Russin Julia Samoilowa im Mai beim Song Contest in Kiew antreten möchte.

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