„Das ist billiger Populismus“
Interview. DIW-Chef Fratzscher hält nichts vom Beschäftigungsbonus für Jobs an Inländer und fordert Härte in den Brexit-Verhandlungen.
Die Presse: Ist die Krise in Europa überwunden? Marcel Fratzscher: Ich bin guten Mutes, dass Europa in diesem Jahr endlich aus der Krise kommt. Das Wachstum beschleunigt sich, auch im Süden. Spanien und Irland haben sich hervorragend entwickelt. Das Sorgenkind Italien wächst wieder stärker. Ich erwarte, dass die Prognosen übertroffen werden. Reformen fangen an zu greifen.
Aber sind sie ausreichend? Das Zeitfenster der Niedrigzinsen auf Staatsschulden schließt sich . . . Spanien ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich harte und mutige Reformen auszahlen. Aber die meisten Regierungen haben die Zeit nicht klug genutzt, auch in Deutschland. Zwei Jahre lang kann die EZB den Druck noch dämpfen, dann kommt der Zinshammer. Ich hoffe, dass neue Regierungen in Frankreich und Italien wichtige Reformen umsetzen. Wir sollten aufhören, uns in Europa schlechter zu reden, als wir sind. Auch in den USA wären Reformen fällig, passieren aber nicht, oder werden von Trump zurückgenommen.
Wie soll die EU die Brexit-Verhandlungen führen? Niemand will Großbritannien schädigen, es ist ja ein wichtiger Handelspartner. Aber es geht darum, die EU zu schützen. Der Binnenmarkt erfordert, dass sich alle an die gleichen Regeln halten. Es kann nicht sein, dass ein Land privilegiert behandelt wird, besser als die Mitgliedsstaaten, die Schweiz oder Norwegen. Die Briten werden nicht bestraft, sie können aus Optionen wählen. Wenn sie den Binnenmarkt wollen, müssen sie die vier Grundfreiheiten erfüllen.
Großbritannien will Firmen mit niedrigen Steuern ins Land locken. Was ist daran schlecht? Es schädigt den Wettbewerb. Darunter leiden Mittelständler, die ihre Abgabenlast nicht ins Ausland verlagern können. Sie zahlen einen hohen Preis, wenn große Unternehmen sich einen unfairen Vorteil verschaffen. Ein Wettlauf nach unten ist schlecht für die Marktwirtschaft. Und für die Ge- sellschaft: Der Staat braucht Einnahmen für wichtige Aufgaben. Das heißt nicht, dass es in der EU keinen Steuerwettbewerb geben kann. Aber er muss in klaren Grenzen verlaufen, mit einem Mindeststeuersatz. Sonst kommt es zu Missbrauch: Einer profitiert auf Kosten der anderen, so wie Irland das vorgemacht hat.
In Österreich ist die Arbeitslosigkeit jahrelang gestiegen. Manche halten die EU-Zuwanderung für die Wurzel des Problems. Was ist der Befund für Deutschland? Bei uns sind seit 2010 vier Millionen Beschäftigte dazugekommen - Frauen und Ältere, vor allem aber Zuwanderer. Schon vor der Flüchtlingskrise, meist junge EU-Bürger. Ohne sie hätte man Jobs nicht besetzen können. Sie waren kein Hemmschuh, im Gegenteil: Firmen können ja nur expandieren, wenn sie genug Arbeitskräfte haben. Es gibt immer noch über eine Million offener Jobs. Unternehmen suchen händeringend, auch nach weniger Qualifizierten. Kein Deutscher muss sich Sorgen machen, dass er wegen der Zuwanderer seinen Job verliert oder keinen findet.
Die Lehre daraus für Österreich? Dass stärkeres Wachstum neue Optionen schafft.
Was halten sie vom österreichischen Beschäftigungsbonus, den es nur für Jobs an Inländer gibt? Das ist billiger Populismus. Eine ehrliche Perspektive ist, dass die EU-Zuwanderer einen ganz wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Stärke leisten. Und ein Binnenmarkt kann nur funktionieren mit der Freizügigkeit für die Menschen, genauso wie fürs Kapital.
Unsere Pro-Kopf-Vermögen sind niedriger als in Südeuropa, trotz höherer Einkommen. Das lässt sich aber erklären. Was ist schlimm daran, wenn wir lieber mieten als Wohnungen kaufen, aufs Sozialsystem vertrauen und deshalb weniger zur Seite legen? Ersparnisse sind wichtig, um den Menschen Freiheit zu geben. Die Sozialversicherung ist eben eine Versicherung, kein Vermögen. Ich habe mit 35 nichts von Rentenansprüchen, wenn ich Geld für die Ausbildung meiner Kinder brauche. Wir brauchen künftig mehr private Vorsorge, aber auch klügere. Viele sparen schlecht, weil sie weder eine Immobilie noch Aktien haben, sondern nur ein Sparbuch.
Sie sagen: Die Vermögen der Reichsten sind nicht das Problem. Andererseits beklagen sie zu niedrige Vermögenssteuern. Wie passt das zusammen? Wir haben ein Problem bei den unteren 40 Prozent, die sich nichts auf die hohe Kante legen können. Es sollte aber nicht zu einer Neiddebatte kommen. Wenn sie den obersten zehn Prozent etwas wegnehmen, heißt das ja nicht, dass es unten ankommt. Deutschland hat riesige Überschüsse, es liegt also nicht an zu niedrigen Steuereinnahmen. Aber: Unsere beiden
(46) ist einer der bekanntesten und einflussreichsten deutschen Ökonomen. Er leitet seit 2013 das DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) in Berlin, das größte derartige Institut des Landes.
der Finanzvorstände in Stegersbach wird Fratzscher am 27. April einen Vortrag halten. Länder besteuern Arbeit sehr stark und Vermögen sehr wenig. Ökonomisch sinnvoll wäre, Arbeit attraktiver zu machen und dafür passives Kapital wie Grund und Boden stärker zu belasten. Ich sage nicht: Wir brauchen per se höhere Steuern auf Vermögen. Ich sage nur: Die Balance stimmt nicht.
Sie sehen Bildungspolitik als das beste Mittel gegen Ungleichheit. Aber der Zugang zu Bildung ist (fast) gratis, es wurde auch viel investiert. Woran liegt es also, dass bei den Bildungsergebnissen immer mehr zurückbleiben? Es ist einiges passiert, vor allem bei Kinderbetreuungsplätzen, aber viel zu wenig. Pro Kopf investieren die nordischen Länder deutlich mehr. Zu viele schaffen keinen Schulabschluss, da ist Langzeitarbeitslosigkeit vorprogrammiert. Österreich und Deutschland brauchen eine massive Bildungsinitiative. Betreuungsschlüssel in den Kitas, mehr Ganztagsschulen, mehr Durchlässigkeit im dreigliedrigen Schulsystem – es gibt so viele Beispiele, wo wir ein Umdenken brauchen, auch in den Köpfen. Die soziale Mobilität ist zu gering: Arm bleibt immer häufiger arm. Freiheit bedeutet auch: Wir dürfen den Menschen nicht ihre Chancen nehmen.