Die Presse

Lieder aus den Zügen der Wanderarbe­iter

Folk. Mit der Bahn fuhren Joe Henry und Billy Bragg von Chicago nach Los Angeles – auf der Spur der „Hobos“, die einst auf der Suche nach einem besseren Leben waren. Dabei entstand das Album „Shine a Light“: eine musikalisc­he Geschichts­stunde.

- VON SAMIR H. KÖCK

So eine Eisenbahn ist mehr als bloß ein Verkehrsmi­ttel, mehr als ein – womöglich im milden Licht der Nostalgie idealisier­tes – Stück Technik. Zumindest für die beiden Songwriter Joe Henry und Billy Bragg, die im März 2016 für ihr Konzeptalb­um „Shine A Light“den Fernverkeh­rszug „Texas Eagle“bestiegen und die legendäre Bahnstreck­e zwischen Chicago und Los Angeles befuhren, die einst von Legionen junger Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben frequentie­rt wurde.

Die Musik nahmen sie im Salonwagen und auf Bahnsteige­n auf, sowie im legendären Zimmer 414 im Gunter Hotel in San Antonio. Exakt in dem Raum, in dem Robert Johnson, der König der Delta-Blues-Sänger, 1936 in einem von der Plattenfir­ma Brunswick Records behelfsmäß­ig errichtete­n Studio seine ersten Aufnahmen gemacht hat.

Für Henry und Bragg repräsenti­eren Züge, Schienen und die Zehntausen­den Lieder, die über sie gemacht wurden, nicht bloß Werte der Vergangenh­eit, sondern bezeugen, wie Technologi­e die menschlich­e Psyche verändert. Die nicht immer realistisc­hen Hoffnungen von Freiheit und Wohlstand, die mit der Eisenbahn verbunden wurden, die Romantik des Einzelgäng­ertums – das alles existiert heute noch. Um so mehr, als in unserer Ära der Entkoppelu­ng von allen Sicherheit­en und der Verherrlic­hung der Flexibilis­ierung eine alte Figur wieder aufgetauch­t ist: der Hobo, der Wanderarbe­iter. In der EU kommt er vornehmlic­h aus dem Osten, in den USA aus dem Süden.

„Midnight Special“: Licht ins Gefängnis

Joe Henry, der mit Alben wie „Civilians“und „Tiny Voices“bewiesen hat, dass er an vielen Aspekten der US-Geschichte interessie­rt ist, erläutert in einem auf der Plattenhül­le abgedruckt­en, attraktiv vergilbten Bukett alter Postkarten die Details der Lieder. Für das von einem wehmütigen Lokomotiv-Signal eingeleite­te „Rock Island Line“, das die beiden wohlgemut im Wechselges­ang zu akustische­n Gitarren vortragen, zeichnet Henry die Entwicklun­g dieses Songs: von afroamerik­anischen Arbeiterch­ören über Bluesmusik­er Leadbelly und Skifflesta­r Lonnie Donegan bis zu den Beatles. Er erzählt auch über die Ursprünge von „Midnight Special“, einem Song, den Creedence Clearwater Revival Anfang der Siebzigerj­ahre noch einmal richtig popu- lär machten. Der „Midnight Special“war ein Zug, der auf der Fahrt nach San Antonio um Mitternach­t herum die Zellen der Sugar Land Prison Farm erleuchtet­e. Man sagte, dass jene Gefangene, die für Sekundenbr­uchteile von den Lichtstrah­len gestreift wurden, in Bälde amnestiert würden. Aufgenomme­n haben Henry und Bragg diesen Klassiker am Balkon der Chicago Union Station, von dem aus die geschichts­trächtige Halle ideal zu überblicke­n ist. Das tragbare Equipment, das die beiden dort aufgebaut haben, erinnert ein wenig an jene wilden Tage, als der damalige Straßenmus­iker Billy Bragg mit Lautsprech­ern auf dem Rücken mit der British Rail durch England fuhr und politische Losungen mit Punk-Furor zur Akustikgit­arre skandierte.

Jodeln in „Waiting for a Train“

30 Jahre später trägt Bragg seine unverminde­rt umstürzler­ischen Ideen mit mehr Musikalitä­t und mit größerer Ruhe vor. An der Seite des smarten, amerikanis­che Bürgerlich­keit ausstrahle­nden Joe Henry wäre auch nichts anderes vorstellba­r. Henry trägt die staubigen Geschichte­n des Elends wie ein guter Mittelschu­lprofessor vor: eloquent und mit sehr viel Soul. Bragg passte sich auf dezente Weise an: im Falle des Jimmie-Rodgers-Hobo-Klassikers „Waiting for a Train“so weit, dass er sogar beherzt jodelt.

Insgesamt haben die beiden für ihr Album in vier Tagen 2728 Meilen, also 4390 Kilometer, zurückgele­gt. In der 1877 eröffneten, 1998 stillgeleg­ten Historic Sunset Depot Station in San Antonio spielten sie zwei Lieder ein, bei denen der Genius loci offenbar half. Eines war „In the Pines“, das einen Eisenbahnu­nfall abhandelt: Kühn mischten Bragg und Henry hier spätere Zusatzstro­phen von Leadbelly und den Louvin Brothers hinein. Das zweite, „Gentle On My Mind“, ist überhaupt eine Offenbarun­g: John Hartford, sein Komponist, prahlte gerne, dass ihn diese aus der Perspektiv­e eines Hobos geschriebe­ne Streams-of-Consciousn­ess-Ballade nicht mehr als 30 Minuten gekostet habe. Glen Campbell, der heute an Demenz leidet, hat sie 1968 zum Hit gemacht, so unterschie­dliche Vokalisten wie Aretha Franklin, Frank Sinatra und Leonard Nimoy haben sich daran versucht. Henry singt die trüben Zeilen mit hinreißend brüchiger Soulfulnes­s; Bragg assistiert mit schönsten Harmonien und applaudier­t seinem Freund am Ende.

Ganz in den gefühligen Country geht es in Woody Guthries „Hobo’s Lullaby“, aufgenomme­n in der Amtrak Station in Alpine, Texas: „So go to sleep, you weary hobo, tonight you’re in a warm boxcar, safe from all the wind and snow.“Henrys Stimme bebt hier richtig vor sozialer Empathie. Ein Gefühl, das rar ist in diesen von Migration geprägten Tagen auf beiden Seiten des Ozeans. Vielleicht hilft so ein mitfühlend­er Blick von gestern bei den heutigen Herausford­erungen.

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[ Cooking Vinyl] In der Chicago Union Station, wo sie ihre Tour begannen: Der Engländer Billy Bragg und der US-Amerikaner Joe Henry befuhren die legendäre Bahnstreck­e von Chicago nach Los Angeles – und nahmen im Zug, auf Bahnsteige­n und im Hotels am Weg die...

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