Aus dem Bürgerkäfig in die Schräglage
Motorrad. Ewig lockt das Zweirad – doch soll man wirklich wieder aufsteigen? Überlegungen eines Wiedereinsteigers.
Weit ist die Ausfahrt der zweirädrigen Klassiker nicht gekommen. Kurz nach der Stadtgrenze, an den Serpentinen des Exelbergs, ist sie gestrandet, jetzt wird das Werkzeug ausgepackt. So viel sieht man schon im Vorbeifahren: Benzintank ausgebaut, hier ist man offensichtlich einer verstopften Kraftstoffzufuhr auf der Spur. Ein typisches Gebrechen, das nach langer Standzeit auftritt und erste Fahrten nach dem Winter gern abwürgt, wenn man sich nicht schon vorsorglich ans Durchputzen und -blasen der Leitungen gemacht hat.
Gute Tipps und wohlmeinende Ratschläge gibt es zu Saisonbeginn jede Menge. Wie man das Bike nach dem Winterschlaf am besten wachküsst, welches Equipment angeraten ist, und welche Vorsichtsmaß- nahmen die Sicherheit heben. Nur eine Empfehlung fehlt: Soll man sich überhaupt wieder auf den Sattel schwingen?
Speziell, wer schon länger Zweiradabstinent war, muss sich das fragen. Die sogenannten Wiedereinsteiger werden von der Industrie am heftigsten umworben, auf ihnen lasten die Hoffnungen der Branche.
Tödliche Smartphones
Es sind die Um-die-40-Jährigen, die sich wieder ein Abenteuer im nunmehr geordneten Leben suchen, die sich erinnern, dass das Unterwegssein auf zwei Rädern früher ziemlich viel Spaß gemacht hat – und die im Gegensatz zu früher nun die Mittel haben, sich Jugendträume zu verwirklichen. Worauf also warten?
Es gibt ein paar Faktoren, die sich nachteilig entwickelt haben, wenn man der Beobachtung längere Zeiträume zugrunde legt. Gerade die Wiedereinsteiger sind eine hervorstechende Risikogruppe – trotz vermeintlicher Reife überschätzen sie sich gern, und obwohl sie vielleicht aus der Übung sind, haben sie unverstellten Zugang zu PS-starkem Material. Vor allem aber ist man nicht allein auf der Straße. Die Verkehrsdichte hat in den vergangenen 20 Jahren spürbar zugenommen, die Räume werden für alle enger. Zudem sind Pkw heute deutlich leistungsstärker, was zu einem lästigen Konkurrenzgebaren beim Beschleunigen führt.
Vor allem aber hat das Smartphone Einzug gehalten in die Autocockpits – die größte Gefahr von allen. Laut Bundesministerium für Inneres liegt die vermutliche Hauptunfallursache tödlicher Verkehrsunfälle durch Unachtsamkeit/Ablenkung mit 30,3 Prozent an erster Stelle, noch vor nicht angepasster Fahrgeschwindigkeit (27,3 Prozent) und Vorrangverletzung (12,9 Prozent). Jeder ist somit herzlich eingeladen, der Versuchung eisern zu widerstehen und die Bildschirmwischerei am Lenkrad zu unterlassen.
Dicke Luft beim Hinterherfahren
Was sich ebenfalls verändert hat, ist die Luftqualität, und zwar negativ. Der Dieselanteil, der heute über jedem vernünftigen Maß liegt, hat zu hohen Schadstoffeinträgen auf den Straßen geführt – kurz: Es stinkt gewaltig beim Hinterherfahren, nicht nur in der Stadt. Man merkt das nur weniger in modernen Autos, weil die über Klimatisierung mit Aktivkohlefilter oder Schadstoffsonden samt automatischer Umluft verfügen. Nicht so der Mensch, der im Freien sitzt.
Auf der anderen Seite ist die Verlockung riesig – allein durch das breite Angebot, das heute auf zwei Rädern in Herzen und Garagen zielt. Die Vielfalt war noch nie so groß, und im Gegensatz zu Pkw, in denen es kaum noch mechanischen Fortschritt gibt und sich die Entwicklung zunehmend auf die Unterhaltung der Passagiere verlegt, tut sich bei Motorrädern Erstaunliches. Zuverlässigkeit und Fahrbarkeit haben dramatisch zugenommen, und die Möglichkeiten der Elektronik schaffen Sicherheit. ABS ist bei den großen Bikes aus guten Gründen Pflicht und damit Standardausrüstung, auch Schlupf bei Schräglage wird mitunter geregelt. Leistung gibt es ohnehin nach Herzenslust. Die Industrie befeuert die zuletzt wieder deutlich steigende Nachfrage vor allem mit Stilübungen – die große Retrowelle hebt gerade erst richtig an. Marken wie BMW, Ducati, Honda, Yamaha und Moto Guzzi haben in ihrer reichen Historie gekramt und stilistische Leihgaben mit moderner, weitgehend launenfreier Technik kombiniert.
Honda hat dem Cross-over-Gedanken mit der faszinierenden X-ADV Gestalt verliehen, einer Mischung aus Scooter und Enduro, ebenso robust wie praktisch. BMW ist kurz davor, den Allradantrieb auf dem Motorrad zu verwirklichen: Noch in diesem Jahr kommt eine GS auf den Markt, die sich mit einem elektrisch angetriebenen Vorderrad quasi an der Nase aus dem Sumpf zieht. Wen das alles nicht juckt, der bleibt halt im Auto sitzen – und schaut zu. (tiv)