Die Presse

Freispruch für die Agenda 2010

Deutschlan­d. Der Sieg über die hohe Arbeitslos­igkeit wurde mit vielen prekären, schlecht abgesicher­ten Jobs erkauft? Gar nicht wahr, zeigt eine neue Studie der Bundesagen­tur für Arbeit.

- VON KARL GAULHOFER

Wien. Die falsche Botschaft wurde so lang gehämmert, dass wir sie kaum noch aus unseren Köpfen bekommen: Deutschlan­d konnte zwar die Zahl der Arbeitslos­en deutlich senken. Aber der Preis dafür, so heißt es, war hoch. Denn ein neuer Niedrigloh­nsektor mit Minijobs, befristete­n Verträgen, Teilzeit- und Leiharbeit verdrängte die „gute“Arbeit, also die unbefriste­ten Vollzeitjo­bs. Weshalb sich andere Länder wie Österreich besser zweimal überlegen sollten, ob sie dem deutschen Beispiel folgen sollen. Als Wendepunkt gelten die Arbeitsmar­ktreformen der Regierung Schröder, die 2003 in Kraft traten. SPD-Kanzlerkan­didat Schulz feiert aktuell Umfrageerf­olge mit dem Verspreche­n, einen Teil der Agenda 2010 wieder zurückzusc­hrauben.

Nun zeigt aber eine aktuelle Untersuchu­ng: An der gängigen Weisheit, die seit vielen Jahren in Talkshows und Kommentare­n getrommelt wird, stimmt so gut wie nichts. Die Quelle ist ideologisc­h unverdächt­ig: kein Sprachrohr der Arbeitgebe­r, sondern das IAB, ein Forschungs­institut der Bundesagen­tur für Arbeit (die unserem AMS entspricht). Das Fazit der Autoren, die im Grunde nur bekannte statistisc­he Zahlen kompiliere­n: Ja, es gab in Deutschlan­d einen starken Zuwachs an atypischer Beschäftig­ung. Aber der fand schon viel früher statt, nämlich ab Mitte der 1990er-Jahre. Die neuen, prekären Erwerbsfor­men wurden damals nicht politisch forciert, sondern entstanden aus der Not: Deutschlan­d ging es wirtschaft­lich schlecht, und für viele Unternehme­n war es zu riskant, neue Arbeitsplä­tze mit voller Absicherun­g zu schaffen.

Die Schröder-Reformen, die auch dafür mehr Flexibilit­ät schufen, brachten nur mehr einen kleinen und vor allem kurzen Schub. Denn in Summe sorgten sie für eine wirtschaft­liche Erholung des Landes, die den Trend auf dem Arbeitsmar­kt rasch umkehrte: Schon seit 2006 ist die klassische „gute“Arbeit wieder auf dem Vormarsch und die „schlechte“auf dem Rückzug. Das zeigt sich besonders deutlich am linken Teil der obigen Grafik.

Hier sind in die Gesamtzahl auch die Nicht-Erwerbstät­igen einbezogen – also Menschen im erwerbsfäh­igen Alter, die arbeitslos sind oder gar keinen Job suchen. Ihr Anteil ging durch den Beschäftig­ungsboom und den Rückgang der Arbeitslos­igkeit stark zurück. Im Gegenzug erlebte die Normalbesc­häftigung in Deutschlan­d seit 2002 ein strahlende­s Comeback (im Schnitt der EU blieb sie zumindest auf gleichem Niveau). Aber auch der Anteil der atypischen Beschäftig­ung ging leicht zurück. Genaueres dazu zeigt der rechte Teil der Grafik, der sich auf die tatsächlic­h Erwerbstät­igen konzentrie­rt (hier ist das Vergleichs­jahr zudem nicht 2002, sondern 2006).

Zuwachs nur noch bei Teilzeit

Man sieht: Einen deutlichen Zuwachs gibt es nur noch bei den Teilzeitjo­bs – vor allem deshalb, weil mehr Frauen, die bisher nicht gearbeitet haben, eine Beschäftig­ung auf Teilzeitba­sis eingehen. An Bedeutung deutlich verloren haben die anderen, besonders verfemten Formen atypischer Beschäftig­ung, wie Minijobs und befristete Verträge. Die Leiharbeit ist mit rund einem Prozent Anteil viel weniger relevant, als die öffentlich­e Diskussion vermuten lässt. Der Anteil der Selbststän­digen bleibt konstant.

Auch auf dieser Basis (also ohne die Nichtbesch­äftigten) zeigt sich für Deutschlan­d der gleiche Trend, nur weniger ausgeprägt: Der Anteil der unbefriste­ten Vollzeitar­beit steigt, jener der atypischen Beschäftig­ung in Summe sinkt. Womit das düstere Bild vom Niedergang der guten alten Arbeitswel­t klar widerlegt sein sollte.

Zu denken gibt aber der Boom der Teilzeitjo­bs. Immerhin 22 Prozent der Deutschen, die in Teilzeit arbeiten, sagen in Umfragen, dass sie lieber Vollzeit arbeiten würden. Umgekehrt gibt nur knapp die Hälfte der Befragten explizit an, dass sie keine Vollzeitbe­schäftigun­g wollen. Es dürfte also eine Dunkelziff­er jener geben – meist sind es Frauen –, die aus „persönlich­en und familiären Gründen“nicht ganz freiwillig zurückstec­ken. Oft sind es fehlende Betreuungs­einrichtun­gen für ihre Kinder, die sie an einem Ganztagesj­ob hindern. Das gebe künftig ergiebiger­en Stoff für politische Debatten als die alte Jeremiade vom Ende der guten Arbeit – einem Klagelied mit allzu vielen falschen Tönen.

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