Diese Gefühle machen uns sprachlos
Buch. Verspüren Sie Awumbuk, wenn Gäste fort sind, treibt Ilget Sie zu Überstunden, Basorexie zum spontanen Kuss? Tiffany Watt Smith hat Gefühlsausdrücke aus aller Welt gesammelt. Auf einige könnten wir direkt neidisch werden.
Die meisten Leute verlieben sich nur, weil sie davon gehört haben – formulierte der französische Schriftsteller La Rochefoucauld im 17. Jahrhundert überspitzt, was wir heute noch viel besser wissen: Gefühle und ihre Benennung sind mitgeformt von gesellschaftlichen Lebensweisen, Gewohnheiten und Notwendigkeiten, aber auch Moden und Zufällen. So kamen in den vergangenen Jahren etwa Worte wie Ringxiety, die Verbindung von leichter Angst und irrtümlichem Wahrnehmen eines Telefonklingelns, oder Basorexie auf: für den spontanen Drang, jemanden zu küssen.
Im Allgemeinen sind Gefühlsausdrücke mehr als nur Modeerscheinungen, sie sind tief mit bestimmten Lebensweisen verbunden. Iktsuarpok etwa nennen die Inuit das Gefühl, dass sich jemand ihrem Heim nähert, und das sie dazu treibt, hinauszuschauen. Awumbuk verspüren die Baining in Papua-Neuguinea nach dem Weggang eines geliebten Gastes – eine als spezifisch erlebte Düsternis und Trägheit, die sie über Nacht in einer Wasserschüssel auffangen und dann entsorgen (der Gast hinterlässt eine Schwere, um selbst leichter für die Reise zu werden, so ihre Deutung). Und an Acedia litten die christlichen Einsiedler des 4. Jahrhunderts in der Wüste, besonders zwischen 11 und 16 Uhr (also in der größten Hitze), sie schoben es Dämonen zu: Lustlosigkeit und Reizbarkeit, die sehr rasch in Traurigkeit und Verzweiflung umschlug.
Amae: Das schönste Wort überhaupt?
Rund 150 zum Teil erstaunliche Wörter für Gefühle aus verschiedensten Kulturen hat die Britin Tiffany Watt Smith, die am Queen Mary Centre for the History of the Emotions forscht, im „Buch der Gefühle“versammelt. Zur vorhin erwähnten Acedia würden wir vielleicht einfach Depression sagen. Aber welches Wort haben wir für eines der wohl wohltuendsten Gefühle der Welt: sich, wenn man Hilfe braucht, der Liebe und Unterstützung eines anderen Menschen völlig sicher sein zu können, ohne Verpflichtung zur Dankbarkeit? Japaner beschreiben es als an die Kindheit erinnerndes Gefühl bedin- gungslosen Versorgtwerdens, absoluter Sicherheit – und nennen es Amae. Ein Wort, um das sie vom Rest der Welt beneidet werden.
Auch Liget kennen und schätzen wohl viele Menschen, auch ohne ein Wort dafür zu haben: So nennen auf einer philippinischen Insel die Kopfjäger des Stamms Ilongot eine wütende, aber als positiv empfundene Energie. Sie vermuten es in den Chilischoten wie im rasenden Wasser – und in ihnen selbst, wenn sie ihrem Temperament freien Lauf lassen oder noch härter arbeiten. Keine Wut, aber Schwung verleiht das walisische Hwyl (vom Wort für „Bootssegel“) – eine plötzliche Inspiration, Inbrunst, Hochstimmung . . .
Keine Frage, auch – oder gerade – das Deutsche kennt wunderbare Worte für wunderbare Gefühle, Tiffany Watt Smith hat sie nicht vergessen: von der Wanderlust über das Fernweh bis hin zum recht neuen Fremdschämen. Manche „Lücken“kann man auch positiv sehen.
Soll man zum Beispiel ein so niederschmetterndes Gefühl wie Zal˙ herbeireden? Der Komponist Fred´eric´ Chopin war davon durchdrungen, glaubt man seinem Freund und Kollegen Franz Liszt. Es ist das Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts – eine Art melancholische, zuweilen mit Reue verbundene Enttäuschung. Oder sollen wir wirklich L´ıtost vermissen, das vom tschechischen Schriftsteller Milan Kundera als „qualvoll“beschriebene Gefühl, wenn uns jemand als erbärmlich dastehen lässt: eine Mischung aus Scham, Groll und Zorn, die oft zur Rache treibt? Wir haben kein eigenes Wort dafür – auch wenn Kundera bezweifelte, dass die menschliche Seele ohne diesen Begriff zu verstehen sei.
Aber es gibt auch fremde Begriffe, die einem in der eigenen Sprache abgehen können. Fago etwa bezeichnet laut Smith auf Ifalik, einem Mini-Atoll im Pazifik, eine zum Helfen treibende Mischung aus Mitgefühl, Traurigkeit und Liebe gegenüber einem in Not Befindlichen – verbunden mit dem Gefühl, dass das Leben zerbrechlich ist und man die betreffende Person eines Tages verlieren wird. Smith erinnert auch an das im 19. Jahrhundert aufgekommene englische Inhabitiveness: die Liebe zu und das Bedürfnis nach Gewohnheiten, Dauerhaftigkeit, Sesshaftigkeit (sein Schicksal konterkarikierte seine Bedeutung, es starb bald wieder aus). Auch das jiddische Naches könnten wir, ein wenig ins Ironische gewendet, gut brauchen: für das übermäßige Entzücken der Eltern angesichts kleinster Leistungen ihrer Kinder.
Verlorene deutsche Glückswörter
Nicht nur andere Sprachen freilich, auch die eigene Sprachgeschichte hat vergessene Gefühle zu bieten. Dem an der Uni Graz lehrenden Germanisten Wernfried Hofmeister fallen auf Anfrage der „Presse“gleich mehrere Beispiele ein: der „hoheˆ muot“zum Beispiel – „eine innere, wertefeste und dienstbereit positive Weltsicht“, so Hofmeister. „Geil bedeutete im Mittelalter noch fröhlich und auch übermütig.“Gerade aus dem Umfeld des Frohsinns seien etliche Begriffe verschwunden, „auch ,gemeit‘, das hieß ebenfalls fröhlich, lebensfroh.“Dafür sind im Deutschen vergleichbare Begriffe nachgerückt – aber für „saelde“? Sie lässt sich nicht leicht wiederbeleben: Sie bedeutete, erklärt Hofmeister, ein dauerhaftes und höchstes Glück – das die Menschen im Himmel vermuteten.