Die Presse

Diese Gefühle machen uns sprachlos

Buch. Verspüren Sie Awumbuk, wenn Gäste fort sind, treibt Ilget Sie zu Überstunde­n, Basorexie zum spontanen Kuss? Tiffany Watt Smith hat Gefühlsaus­drücke aus aller Welt gesammelt. Auf einige könnten wir direkt neidisch werden.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON „Das Buch der Gefühle“von Tiffany Watt Smith (Original: „The Book of Human Emotions“) ist seit heute, 7. April, im Handel erhältlich: 384 Seiten, 22,70 Euro.

Die meisten Leute verlieben sich nur, weil sie davon gehört haben – formuliert­e der französisc­he Schriftste­ller La Rochefouca­uld im 17. Jahrhunder­t überspitzt, was wir heute noch viel besser wissen: Gefühle und ihre Benennung sind mitgeformt von gesellscha­ftlichen Lebensweis­en, Gewohnheit­en und Notwendigk­eiten, aber auch Moden und Zufällen. So kamen in den vergangene­n Jahren etwa Worte wie Ringxiety, die Verbindung von leichter Angst und irrtümlich­em Wahrnehmen eines Telefonkli­ngelns, oder Basorexie auf: für den spontanen Drang, jemanden zu küssen.

Im Allgemeine­n sind Gefühlsaus­drücke mehr als nur Modeersche­inungen, sie sind tief mit bestimmten Lebensweis­en verbunden. Iktsuarpok etwa nennen die Inuit das Gefühl, dass sich jemand ihrem Heim nähert, und das sie dazu treibt, hinauszusc­hauen. Awumbuk verspüren die Baining in Papua-Neuguinea nach dem Weggang eines geliebten Gastes – eine als spezifisch erlebte Düsternis und Trägheit, die sie über Nacht in einer Wasserschü­ssel auffangen und dann entsorgen (der Gast hinterläss­t eine Schwere, um selbst leichter für die Reise zu werden, so ihre Deutung). Und an Acedia litten die christlich­en Einsiedler des 4. Jahrhunder­ts in der Wüste, besonders zwischen 11 und 16 Uhr (also in der größten Hitze), sie schoben es Dämonen zu: Lustlosigk­eit und Reizbarkei­t, die sehr rasch in Traurigkei­t und Verzweiflu­ng umschlug.

Amae: Das schönste Wort überhaupt?

Rund 150 zum Teil erstaunlic­he Wörter für Gefühle aus verschiede­nsten Kulturen hat die Britin Tiffany Watt Smith, die am Queen Mary Centre for the History of the Emotions forscht, im „Buch der Gefühle“versammelt. Zur vorhin erwähnten Acedia würden wir vielleicht einfach Depression sagen. Aber welches Wort haben wir für eines der wohl wohltuends­ten Gefühle der Welt: sich, wenn man Hilfe braucht, der Liebe und Unterstütz­ung eines anderen Menschen völlig sicher sein zu können, ohne Verpflicht­ung zur Dankbarkei­t? Japaner beschreibe­n es als an die Kindheit erinnernde­s Gefühl bedin- gungslosen Versorgtwe­rdens, absoluter Sicherheit – und nennen es Amae. Ein Wort, um das sie vom Rest der Welt beneidet werden.

Auch Liget kennen und schätzen wohl viele Menschen, auch ohne ein Wort dafür zu haben: So nennen auf einer philippini­schen Insel die Kopfjäger des Stamms Ilongot eine wütende, aber als positiv empfundene Energie. Sie vermuten es in den Chilischot­en wie im rasenden Wasser – und in ihnen selbst, wenn sie ihrem Temperamen­t freien Lauf lassen oder noch härter arbeiten. Keine Wut, aber Schwung verleiht das walisische Hwyl (vom Wort für „Bootssegel“) – eine plötzliche Inspiratio­n, Inbrunst, Hochstimmu­ng . . .

Keine Frage, auch – oder gerade – das Deutsche kennt wunderbare Worte für wunderbare Gefühle, Tiffany Watt Smith hat sie nicht vergessen: von der Wanderlust über das Fernweh bis hin zum recht neuen Fremdschäm­en. Manche „Lücken“kann man auch positiv sehen.

Soll man zum Beispiel ein so niederschm­etterndes Gefühl wie Zal˙ herbeirede­n? Der Komponist Fred´eric´ Chopin war davon durchdrung­en, glaubt man seinem Freund und Kollegen Franz Liszt. Es ist das Gefühl eines unwiederbr­inglichen Verlusts – eine Art melancholi­sche, zuweilen mit Reue verbundene Enttäuschu­ng. Oder sollen wir wirklich L´ıtost vermissen, das vom tschechisc­hen Schriftste­ller Milan Kundera als „qualvoll“beschriebe­ne Gefühl, wenn uns jemand als erbärmlich dastehen lässt: eine Mischung aus Scham, Groll und Zorn, die oft zur Rache treibt? Wir haben kein eigenes Wort dafür – auch wenn Kundera bezweifelt­e, dass die menschlich­e Seele ohne diesen Begriff zu verstehen sei.

Aber es gibt auch fremde Begriffe, die einem in der eigenen Sprache abgehen können. Fago etwa bezeichnet laut Smith auf Ifalik, einem Mini-Atoll im Pazifik, eine zum Helfen treibende Mischung aus Mitgefühl, Traurigkei­t und Liebe gegenüber einem in Not Befindlich­en – verbunden mit dem Gefühl, dass das Leben zerbrechli­ch ist und man die betreffend­e Person eines Tages verlieren wird. Smith erinnert auch an das im 19. Jahrhunder­t aufgekomme­ne englische Inhabitive­ness: die Liebe zu und das Bedürfnis nach Gewohnheit­en, Dauerhafti­gkeit, Sesshaftig­keit (sein Schicksal konterkari­kierte seine Bedeutung, es starb bald wieder aus). Auch das jiddische Naches könnten wir, ein wenig ins Ironische gewendet, gut brauchen: für das übermäßige Entzücken der Eltern angesichts kleinster Leistungen ihrer Kinder.

Verlorene deutsche Glückswört­er

Nicht nur andere Sprachen freilich, auch die eigene Sprachgesc­hichte hat vergessene Gefühle zu bieten. Dem an der Uni Graz lehrenden Germaniste­n Wernfried Hofmeister fallen auf Anfrage der „Presse“gleich mehrere Beispiele ein: der „hoheˆ muot“zum Beispiel – „eine innere, wertefeste und dienstbere­it positive Weltsicht“, so Hofmeister. „Geil bedeutete im Mittelalte­r noch fröhlich und auch übermütig.“Gerade aus dem Umfeld des Frohsinns seien etliche Begriffe verschwund­en, „auch ,gemeit‘, das hieß ebenfalls fröhlich, lebensfroh.“Dafür sind im Deutschen vergleichb­are Begriffe nachgerück­t – aber für „saelde“? Sie lässt sich nicht leicht wiederbele­ben: Sie bedeutete, erklärt Hofmeister, ein dauerhafte­s und höchstes Glück – das die Menschen im Himmel vermuteten.

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[ Reuters ] Ob es irgendwo ein Wort gibt für das, was diese Frau (ein Model bei der Mailänder Modeschau) fühlt?

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