Die Presse

Was treibt junge Russen auf die Straßen?

Gastkommen­tar. Die „Generation Putin“sucht nach Möglichkei­ten der Selbstverw­irklichung. Instinktiv begehrt sie gegen zu einfache, eindimensi­onale und künstlich eindeutige Weltbilder auf. Sie schreckt aber vor politische­n Fragen zurück.

- ANNA SCHOR-TSCHUDNOWS­KAJA E-Mails an: debatte@diepresse.com

Mehrere Zehntausen­d Menschen haben am 26. März in Dutzenden Städten Russlands an friedliche­n Kundgebung­en und Märschen gegen die auch und gerade an der Staatsspit­ze grassieren­de Korruption teilgenomm­en. Die meisten Demonstrat­ionen waren von den lokalen Behörden nicht genehmigt gewesen, so kam es zu zahlreiche­n Verhaftung­en. Allein in Moskau wurden verschiede­nen inoffiziel­len Quellen zufolge über 1000 Demonstran­ten festgenomm­en. Menschenre­chtsaktivi­sten sprachen von einem (traurigen) „Rekord“in der Geschichte des postsowjet­ischen Russlands.

Angesichts von immer repressive­ren Gesetzen und aufgrund ständiger Verfolgung­en von Menschen, die öffentlich, im Internet oder mitunter sogar privat „abweichend­e“Meinungen geäußert haben, ziehen alle Arten von Protest in Russland erhebliche Aufmerksam­keit auf sich.

Korruption als Auslöser

Im Mittelpunk­t der Diskussion­en stand aber diesmal das Alter der Manifestan­ten: Schüler und Studierend­e waren sowohl unter den Demonstran­ten wie unter den Festgenomm­enen klar überrepräs­entiert. Beobachter waren sich darin einig, dass noch nie so viele Menschen unter 25 Jahren an politische­n Protesten beteiligt waren.

Hoffnungsv­oll spricht man nun von einem „neuen politische­n Subjekt“, das in Gestalt dieser Jugend die öffentlich­e Bühne betreten habe. Die Rede ist von der sogenannte­n „ersten Generation Putins“, hat sie doch ihr gesamtes bewusstes Leben in einem von Wladimir Putin (seit 1999) regierten Russland verbracht. Doch was sind die Motive für deren Engagement?

Der äußere Auslöser für die Kundgebung­en war ein von der Stiftung für die Bekämpfung der Korruption des Opposition­spolitiker­s Alexej Nawalny drei Wochen zuvor im Internet verbreitet­es Videodossi­er über die privaten Geschäfte und Besitztüme­r des Ministerpr­äsidenten und engen Putin-Vertrauten Dmitrij Medwedjew. Die Stiftung hat in den letzten Jahren zahlreiche solcher Dossiers veröffentl­icht. Nimmt man sie alle mehr oder weniger ernst, bleibt in der russischen politische­n Klasse (und vor allem im engen Kreis um Putin) so gut wie niemand übrig, der sich nicht in den Schlingen der Korruption verfangen hätte.

Dieses in jeder Hinsicht grenzenlos­e Phänomen (so wurden immer wieder russische Politiker, die in Reden zu Hause kein gutes Haar am „Westen“lassen, überführt, genau dort Villen, Jachten, Weingüter, studierend­e Kinder usw. zu haben) ist eines der wichtigste­n zementiere­nden Elemente von Putins Regime, quasi sein Synonym.

Auf dem jüngsten Korruption­sindex von Transparen­cy Internatio­nal belegt Russland den geteilten 131. Platz (zum Vergleich: Dänemark – 1., Österreich – 17., Somalia – 176). Die letzten Enthüllung­en über Medwedjew beeindruck­ten also zwar durch ihren Detailreic­htum, verkündete­n aber im Prinzip nichts Neues.

Loyal gegenüber Putin

Tatsächlic­h ging es am 26. März nicht allein um Medwedjew – schon deswegen nicht, weil etwa in St. Petersburg Tausende „Putin – Dieb!“skandierte­n und Plakate mit Parolen wie „Die Korruption raubt uns unsere Zukunft“mit sich führ- ten. Fragt man junge Menschen gezielt danach, weswegen sie auf die Straße gingen, bekommt man Antworten wie „Es war eine Kundgebung für alles Gute und gegen alles Schlechte“. Das aber sollte man nicht als banal abtun.

Die trockenen statistisc­hen Zahlen deuten auf kein größeres Protestpot­enzial unter jungen Leuten im Vergleich zu anderen Altersstuf­en hin. Noch im Jänner bezeichnet­en 64 Prozent der Befragten zwischen 18 bis 24 Jahren den politische­n Kurs Russlands als „richtig“. 2014, gleich nach der Annexion der ukrainisch­en Halbinsel Krim durch Russland, hatte dieser Wert sogar 72 Prozent betragen. Fragt man die „Generation Putins“gezielt nach der Unterstütz­ung für den Präsidente­n, fiel die Zustimmung im Jänner 2017 mit 91 Prozent höher aus als der Durchschni­ttswert aller Altersgrup­pen, der bei 85 Prozent lag.

Auch andere Untersuchu­ngen und Beobachtun­gen dokumentie­ren eine beachtlich­e Loyalität junger Menschen gegenüber Putin. In meinen Befragunge­n, die sich vor allem mit der sowjetisch­en Geschichte befassen, konnte ich feststelle­n, dass die Studierend­en nur wenig über diese Periode der Geschichte Russlands wissen; wenn sie sich überhaupt für die Vergangenh­eit interessie­ren, dann eher für „entlegene“Epochen wie die mittelalte­rliche Kiewer Rus. Zu Putin heißt es meist nur, dass kein Besserer zu sehen sei.

„Politisch sein“ist gefährlich

Es spricht vieles dafür, dass die jungen Teilnehmer der letzten Protestakt­ionen sich selbst für apolitisch halten. „Politisch“ist nämlich gefährlich – der Begriff steht zumindest potenziell für „Illoyalitä­t“(gegenüber Putins Macht) und damit möglicherw­eise für schwere Konsequenz­en in der Schule oder Universitä­t. Seit mehreren Jahren schon werden „unbequeme“russische NGOs und selbst Markt- und Meinungsfo­rschungsin­stitute unter Hinweis auf angebliche „politische Tätigkeit“schikanier­t, mit Geldstrafe­n belegt, aufgelöst und/oder in ein Register „ausländisc­her Agenten“eingetrage­n. So heißt „politisch“zu sein fast schon, „gegen Russland“zu sein – und das wollen die Jungen unter keinen Umständen.

Ihren Auftritt werten sie eher als patriotisc­h und ethisch. „Wir sind auf die Straße gegangen, weil wir stolz auf unser Land sein möchten“, sagt ein junger Mann. „Die Korruption ist doch sehr peinlich, wir wollen aber stolz auf Russland sein“, meint ein Mädchen und fügt hinzu: „Wir haben das Recht zu zeigen, dass uns etwas peinlich ist.“

Ethische Orientieru­ngen fehlen

Nein, es gehe nicht um irgendwelc­he politische­n Forderunge­n, sagt ein anderes Mädchen, schon gar nicht um politische Veränderun­gen, sondern eher um das Gewissen. Und ein weiterer junger Mann hält folgendes Dilemma fest: „Meine Generation versucht, eine ethische Stütze aufzuspüre­n, und findet keine.“

Sie gingen also wohl auf die Straße, weil die erste „Generation Putins“langsam erwachsen wird und nach Möglichkei­ten der Selbstverw­irklichung sucht. Dafür brauchen sie ansprechen­de Zukunftsau­ssichten und ethische Orientieru­ngen, bei beidem stellen sie einen schmerzhaf­ten Mangel fest.

Instinktiv begehren sie gegen zu einfache, eindimensi­onale und künstlich eindeutige Weltbilder auf. Sie befinden sich in einer politische Loyalität fordernden Umwelt, wo sie lernen, bestimmte Fragen, Namen und Fakten zu vermeiden, sind in einer gleichgesc­halteten Medienland­schaft sozialisie­rt, von der sie ins Internet flüchten (wenngleich dieses zunehmend von Geheimdien­sten kontrollie­rt wird). Sie suchen nach komplexere­n Weltbilder­n, formuliere­n ethische Fragen, die sie viel höher werten als politische. Und sie verstehen noch nicht, dass das letztlich oft dieselben Fragen sind.

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