Die Presse

Genosse Kanzler, hast Du die toten Kinder gesehen?

Ein Appell an Bundeskanz­ler Kern, Politik in der Flüchtling­sfrage zu ändern.

- VON SEBASTIAN BOHRN MENA Dr. Sebastian Bohrn Mena (32) ist Ökonom und Volksbildn­er. 2015 führte er einen Vorzugssti­mmenwahlka­mpf für die SPÖ bei den Gemeindera­tswahlen in Wien.

Sehr geehrter Herr Bundeskanz­ler, lieber Genosse Kern! Vor Kurzem erreichte uns die Nachricht vom neuerliche­n Giftgasang­riff in Syrien, mit Dutzenden Toten, darunter auch Kindern. Die Bilder ihrer Leichen brennen sich ins Gedächtnis, lassen viele von uns nicht mehr ruhig schlafen.

Es könnten auch unsere Kinder sein, die da regungslos in Fabrikshal­len liegen. Jedes einzelne von ihnen ist ein Mahnmal für die Gräuel des Krieges. Sie sind aber auch Mahnmale für die Ohnmacht der EU und der nationalen Regierunge­n. Denn diese verantwort­en, dass ihnen immer noch nicht jene Hilfe zuteil wird, die sie benötigen: sichere Fluchtwege, eine ordentlich­e Finanzieru­ng der Flüchtling­slager, eine europäisch­e Initiative zur Beendigung des Konflikts.

Parallel dazu verschärft sich der öffentlich­e Diskurs zu Flucht und Asyl – angeheizt vom Boulevard, der verstärkt mit Inseraten versorgt wird und losgelöst von moralische­n Grenzen ungeniert Hetze verbreitet. Es ist diese Hetze, die uns spaltet. Es ist diese Spaltung, die die Politik dazu treibt, vor dem Rechtsnati­onalismus zu kapitulier­en. Ist der Fokus auf „Unsere Leut“wirklich der Weg, den Du gehen möchtest und bei dem Dich die Menschen ein Stück begleiten sollen?

Schon genug geholfen?

Ich kann Dich auf diesem Weg nicht begleiten. Dabei möchte ich das gern. Aber wie soll ich das mit mir vereinbare­n, wenn das gleichzeit­ig auch die Legitimier­ung dieses menschenre­chtsbedroh­lichen Kurses bedeutet?

Meine Familie musste und konnte in den 1970er-Jahren von Chile nach Österreich flüchten. Weil dort der Faschismus den aufblühend­en Sozialismu­s zertrümmer­te und mit ihm Zigtausend­e Existenzen. Wir hatten Glück, die „Festung Europa“war noch nicht erbaut, die SPÖ empfand es als Auszeichnu­ng, internatio­nale Solidaritä­t zu leben. Heute wäre das nicht mehr möglich. Weil, so höre und lese ich immer öfter, „wir schon genug geholfen haben“. Kann es für uns wirklich eine Obergrenze der Solidaritä­t geben? Kann man den Ärmsten und Schwächste­n „genug“helfen und eine Zahl festlegen, als Grenze des ruhigen Gewissens?

Worauf warten? Kurs ändern!

Wenn ich die Kinderleic­hen sehe, kann mein Gewissen nicht ruhen. Das betrifft die Giftgasopf­er in Syrien, die Ertrunkene­n im Mittelmeer und die Verhungert­en im Jemen gleicherma­ßen. Mein Gewissen kann nicht ruhen, solange ich nicht die Gewissheit habe, dass wir als SPÖ alles machen, was möglich ist, um zu helfen. Das machen wir derzeit definitiv nicht. Derzeit schreibst Du für uns Briefe, um zu verhindern, dass wir mehr Minderjähr­ige aufnehmen müssen. Derzeit quälen wir uns durch eine Koalition mit Leuten, die offen die Einschränk­ung von Grundrecht­en fordern. Und werden dadurch unfreiwill­ig zu ihren Mittätern.

Lieber Genosse, lass mich abschließe­nd eine Bitte formuliere­n. Als Vater eines zwei Monate alten Sohnes, der in einer solidarisc­hen und gerechten Gesellscha­ft aufwachsen soll: Bitte ändere Deinen Kurs. Schau Dir die Fotos der ermordeten, ertrunkene­n, verhungert­en Kinder an und dann: Handle! Lass nicht zu, dass unsere Gegenwart als Zeit des Niedergang­s der Menschenre­chte in die Geschichte eingeht. Lass nicht zu, dass Rechtsnati­onalismus innerhalb der SPÖ salonfähig wird.

Wenn wir unsere Rolle als Instanz der Solidaritä­t aufgeben und jene des antifaschi­stischen Bollwerks verlieren, blicken wir einer dunklen, gefährlich­en Zeit entgegen. Noch lässt sich das verhindern. Worauf also warten? Es ist Zeit, die Dinge zu ordnen!

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