Die Lust am Leid
Polemik. Sie werden missbraucht, geschlagen, in der Hochzeitsnacht vergewaltigt, verlieren ihre Mütter oder ihre Kinder: Romane über entsetzliche Schicksale haben derzeit Konjunktur. Über das Spiel mit dem Entsetzen.
Romane ü\er schlimme Schicksale ha\en derzeit Konjunktur. Ü\er das Spiel mit dem Entsetzen.
Das Grauen scheint spätestens auf Seite 500 perfekt. Da hat Jude eigentlich schon ein Martyrium hinter sich, das drei Romane füllen könnte. Seine Eltern haben ihn ausgesetzt, im Kloster wurde er missbraucht. Ein Pater hat ihm, zur Strafe für ein gestohlenes Feuerzeug, die Hand mit Olivenöl eingerieben und angezündet. Jude flieht mithilfe eines Klosterbruders, aber der bringt ihn nicht in Sicherheit, sondern führt ihm in einem Motelzimmer den ersten Freier zu: „Es wird ganz schnell vorbei sein“, sagt sein vermeintlicher Retter: „Du bist so gut darin.“
„Ein wenig Leben“von Hanya Yanagihara ist einer von mehreren Schicksalsromanen, die mit dem Schrecken punkten und so die Bestsellerlisten stürmen: Bill Cleggs für den Booker Prize nominierter Band „Fast eine Familie“zählt dazu – über June, die durch eine Gasexplosion ihre ganze Familie verliert und gequält von der Erinnerung, dass sie es war, die den Herd nicht abgeschaltet hat, durchs Land irrt. Dona Tartts „Distelfink“, an dessen Anfang die quälend ausführliche Beschreibung jenes Morgens steht, an dem Theo seine Mutter ins Museum begleitet. Sie stirbt bei einem Bombenanschlag, Theo rettet sich nach Hause und wartet und hofft und wartet und hofft.
Der moderne Hiob
In gewisser Weise gehört auch Elena Ferrantes Neapel-Saga auf diese Liste: In „Meine geniale Freundin“gerät der Vater in Rage und wirft die zehnjährige Lila aus dem Fenster „wie ein Stück Holz“, zum Glück bricht sie sich nur einen Arm, im zweiten Band wird Lila in der Hochzeitsnacht verprügelt und vergewaltigt, sie kommt grün und blau geschlagen aus den Flitterwochen zurück.
Von all diesen Leidensgeschichten ist freilich „Ein wenig Leben“die radikalste – und das nicht nur, weil der Roman intensiv vorführt, dass die Zeit nicht immer alle Wunden heilt – weder seelische noch körperliche –, sondern weil er uns detailreich alle Qualen ausmalt, allein die Vergewaltigung und Misshandlung durch den Liebhaber beansprucht mehrere Seiten. Und die Tortur ist noch nicht zu Ende: Als wäre er Hiob, dieser ins Unglück gestürzte Gerechte, trifft ihn Schicksalsschlag um Schicksalsschlag. Aller- dings soll damit nicht die unergründliche Größe Gottes bewiesen werden, sondern . . .
Ja, was? Dass wir mitleiden können? Dass wir zumindest als Lesende noch zu großen Gefühlen fähig sind?
Dieses „Es kommt noch schlimmer“bildet bildet eine Konstante dieser Art von Roman: Erst wurde im „Distelfink“die Mutter zerfetzt, dann kommt der Vater spektakulär zu Tode. Ferrantes Lila scheint die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben, unter Todes- gefahr entschließt sie sich, diese Liebe zu leben, und bleibt nach 23 Tagen allein und schwanger zurück. Kurz lassen uns die Autoren Hoffnung schöpfen, dann folgt die Enttäuschung. Ist es das, was Rezensenten meinen, wenn sie von Sog sprechen? Dieses Pendeln zwischen Hoffnung und Enttäuschung? Diese Unausweichlichkeit, wie wir sie von der griechischen Tragödie kennen, die kathartisch wirken sollte, was wohl schon damals eine Ausrede war?
Auf diese Weise halten uns die Autoren bei der Stange. Und das über Hunderte Seiten lang. Mit Ausnahme von Cleggs Buch handelt es sich bei allen Schicksalsromanen um wahre Wälzer, um Lesefutter, süffig geschrieben, so klug konstruiert, dass die glatte Raffinesse verstört: Hanya Yanagihara streut gekonnt Hinweise auf kommendes Grauen, Dona Tartts bedient die Interpreten mit einer Metaebene rund ums titelgebende Gemälde, Bill Clegg, der durchaus behutsam beginnt und eben nicht jedes Grauen zelebrieren muss, verknüpft seine berührende Geschichte tiefer Trauer dann leider doch noch mit einem Whodunit-Aspekt. Und Ferrante baut Spannung auf, als hätte sie bei „Game of Thrones“abgekupfert, Cliffhanger inklusive.
Die Tragödie adelt sie
Und wie bei manchen Serien ist auch das Personal dieser Leidensgeschichten nicht von dieser Welt: Jude ist charismatisch, schön, mit messerscharfem Verstand. Alle paar Seiten erfahren wir von neuen Qualitäten – er hätte Sänger werden können, so wohl klingt sein Tenor. Ferrantes Lila sticht in der Schule mühelos die Akademikerkinder aus, ist frech, mutig, klug und entwickelt sich zur atemberaubenden Schönheit. Dona Tartts Theo ist natürlich ebenfalls kein Durchschnittskind. Er hat eine Klasse übersprungen und nimmt Hobie, seinen späteren väterlichen Freund, durch seine Vorliebe für Edgar Allan Poe für sich ein.
Womit wir beim letzten Punkt wären: Alle Schicksalsromane drehen sich um die wunderbare Kraft der Freundschaft. Diese Freunde leiden mit Jude, June, Lila und Co., sie lieben sie, stehen ihnen zur Seite, bewundern sie. Denn unsere Opfer sind Helden. Ihr Leid soll sie adeln.
Das nennt man Kitsch.