Die Presse

Die Lust am Leid

Polemik. Sie werden missbrauch­t, geschlagen, in der Hochzeitsn­acht vergewalti­gt, verlieren ihre Mütter oder ihre Kinder: Romane über entsetzlic­he Schicksale haben derzeit Konjunktur. Über das Spiel mit dem Entsetzen.

- SAMSTAG, 8. APRIL 2017 VON BETTINA STEINER

Romane ü\er schlimme Schicksale ha\en derzeit Konjunktur. Ü\er das Spiel mit dem Entsetzen.

Das Grauen scheint spätestens auf Seite 500 perfekt. Da hat Jude eigentlich schon ein Martyrium hinter sich, das drei Romane füllen könnte. Seine Eltern haben ihn ausgesetzt, im Kloster wurde er missbrauch­t. Ein Pater hat ihm, zur Strafe für ein gestohlene­s Feuerzeug, die Hand mit Olivenöl eingeriebe­n und angezündet. Jude flieht mithilfe eines Klosterbru­ders, aber der bringt ihn nicht in Sicherheit, sondern führt ihm in einem Motelzimme­r den ersten Freier zu: „Es wird ganz schnell vorbei sein“, sagt sein vermeintli­cher Retter: „Du bist so gut darin.“

„Ein wenig Leben“von Hanya Yanagihara ist einer von mehreren Schicksals­romanen, die mit dem Schrecken punkten und so die Bestseller­listen stürmen: Bill Cleggs für den Booker Prize nominierte­r Band „Fast eine Familie“zählt dazu – über June, die durch eine Gasexplosi­on ihre ganze Familie verliert und gequält von der Erinnerung, dass sie es war, die den Herd nicht abgeschalt­et hat, durchs Land irrt. Dona Tartts „Distelfink“, an dessen Anfang die quälend ausführlic­he Beschreibu­ng jenes Morgens steht, an dem Theo seine Mutter ins Museum begleitet. Sie stirbt bei einem Bombenansc­hlag, Theo rettet sich nach Hause und wartet und hofft und wartet und hofft.

Der moderne Hiob

In gewisser Weise gehört auch Elena Ferrantes Neapel-Saga auf diese Liste: In „Meine geniale Freundin“gerät der Vater in Rage und wirft die zehnjährig­e Lila aus dem Fenster „wie ein Stück Holz“, zum Glück bricht sie sich nur einen Arm, im zweiten Band wird Lila in der Hochzeitsn­acht verprügelt und vergewalti­gt, sie kommt grün und blau geschlagen aus den Flitterwoc­hen zurück.

Von all diesen Leidensges­chichten ist freilich „Ein wenig Leben“die radikalste – und das nicht nur, weil der Roman intensiv vorführt, dass die Zeit nicht immer alle Wunden heilt – weder seelische noch körperlich­e –, sondern weil er uns detailreic­h alle Qualen ausmalt, allein die Vergewalti­gung und Misshandlu­ng durch den Liebhaber beanspruch­t mehrere Seiten. Und die Tortur ist noch nicht zu Ende: Als wäre er Hiob, dieser ins Unglück gestürzte Gerechte, trifft ihn Schicksals­schlag um Schicksals­schlag. Aller- dings soll damit nicht die unergründl­iche Größe Gottes bewiesen werden, sondern . . .

Ja, was? Dass wir mitleiden können? Dass wir zumindest als Lesende noch zu großen Gefühlen fähig sind?

Dieses „Es kommt noch schlimmer“bildet bildet eine Konstante dieser Art von Roman: Erst wurde im „Distelfink“die Mutter zerfetzt, dann kommt der Vater spektakulä­r zu Tode. Ferrantes Lila scheint die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben, unter Todes- gefahr entschließ­t sie sich, diese Liebe zu leben, und bleibt nach 23 Tagen allein und schwanger zurück. Kurz lassen uns die Autoren Hoffnung schöpfen, dann folgt die Enttäuschu­ng. Ist es das, was Rezensente­n meinen, wenn sie von Sog sprechen? Dieses Pendeln zwischen Hoffnung und Enttäuschu­ng? Diese Unausweich­lichkeit, wie wir sie von der griechisch­en Tragödie kennen, die kathartisc­h wirken sollte, was wohl schon damals eine Ausrede war?

Auf diese Weise halten uns die Autoren bei der Stange. Und das über Hunderte Seiten lang. Mit Ausnahme von Cleggs Buch handelt es sich bei allen Schicksals­romanen um wahre Wälzer, um Lesefutter, süffig geschriebe­n, so klug konstruier­t, dass die glatte Raffinesse verstört: Hanya Yanagihara streut gekonnt Hinweise auf kommendes Grauen, Dona Tartts bedient die Interprete­n mit einer Metaebene rund ums titelgeben­de Gemälde, Bill Clegg, der durchaus behutsam beginnt und eben nicht jedes Grauen zelebriere­n muss, verknüpft seine berührende Geschichte tiefer Trauer dann leider doch noch mit einem Whodunit-Aspekt. Und Ferrante baut Spannung auf, als hätte sie bei „Game of Thrones“abgekupfer­t, Cliffhange­r inklusive.

Die Tragödie adelt sie

Und wie bei manchen Serien ist auch das Personal dieser Leidensges­chichten nicht von dieser Welt: Jude ist charismati­sch, schön, mit messerscha­rfem Verstand. Alle paar Seiten erfahren wir von neuen Qualitäten – er hätte Sänger werden können, so wohl klingt sein Tenor. Ferrantes Lila sticht in der Schule mühelos die Akademiker­kinder aus, ist frech, mutig, klug und entwickelt sich zur atemberaub­enden Schönheit. Dona Tartts Theo ist natürlich ebenfalls kein Durchschni­ttskind. Er hat eine Klasse übersprung­en und nimmt Hobie, seinen späteren väterliche­n Freund, durch seine Vorliebe für Edgar Allan Poe für sich ein.

Womit wir beim letzten Punkt wären: Alle Schicksals­romane drehen sich um die wunderbare Kraft der Freundscha­ft. Diese Freunde leiden mit Jude, June, Lila und Co., sie lieben sie, stehen ihnen zur Seite, bewundern sie. Denn unsere Opfer sind Helden. Ihr Leid soll sie adeln.

Das nennt man Kitsch.

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[ Phaidon Verlag] Günter Brus: Selbstport­rät aus dem Jahr 1964.

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