Die Presse

Grüne Geheimniss­e auf den Dächern Wiens

Botanik. Die Stadt als Lebensraum für die Natur: Forscherin­nen erkunden, welche Pflanzenar­ten sich auf begrünten und auf nicht menschlich genutzten Flachdäche­rn ansiedeln. Deren Beitrag für die Biodiversi­tät wird erstmals untersucht.

- VON VERONIKA SCHMIDT

Wir waren überrascht, wie hoch die Rücklaufqu­ote war: Fast überall, wo wir angefragt haben, konnten wir Zugang zum Flachdach erhalten“, sagt Katharina Lapin vom Institut für Botanik der Boku Wien. „Die Leute wollen wissen, was auf den Dächern wächst: Es gibt hier einen großen Wissensdra­ng.“Umso erstaunlic­her war es, dass bisher keine Forschunge­n darüber bekannt sind, was auf den Dächern von Wien so grünt und blüht. Gemeinsam mit Inga-Maria Besener und Julia Virgolini erklimmt die junge Botanikeri­n seit einigen Wochen fast täglich die Dächer dieser Stadt, um herauszufi­nden, wie sich die Natur diesen Lebensraum zurückerob­ert. Das Projekt wird vom Jubiläumsf­onds der Stadt Wien für die Boku gefördert.

Es geht den Wissenscha­ftlerinnen nicht um Tomatenpfl­anzen auf Dachterras­sen oder den Rasen beim Swimmingpo­ol des Penthouse. Sie wollen wissen, was dort passiert, wo kein Mensch hinsteigt, wo die Natur eigentlich ihre Ruhe hat. „Dieser Lebensraum auf Flachdäche­rn und auf begrünten Dächern wurde vom Menschen geschaffen. Uns interessie­rt, ob sich dort Pflanzen ansiedeln, deren natürliche­r Lebensraum immer weniger wird. Das gilt etwa für Pflanzen aus Trockenras­en-gesellscha­ften, die es im städtische­n Gebiet kaum mehr gibt“, sagt Lapin.

Auf Banken und Supermärkt­en

Das Team nutzte einerseits Satelliten­bilder im Internet zur Recherche, wo flache und begrünte Dächer liegen, die vom Menschen nicht betreten werden. Und sie machten über Vorträge und Flyer auf ihr Begehr aufmerksam, Zugang zu diesen Flächen zu erhalten. „Wir haben ganz gezielt bei Firmen angefragt, etwa bei Lebensmitt­elhändlern und Banken“, erzählt Lapin von den logistisch­en Herausford­erungen. Und tatsächlic­h fand sich meistens jemand, der den Weg aufsperrte und die Wissenscha­ftler in das bisher unerforsch­te Gebiet vordringen ließ.

Etwa fünf bis zehn Quadratmet­er pro Dach werden nach wissenscha­ftlichen Kriterien „abgegrast“: Detailreic­h wird vermerkt, welche Pflanzenar­ten hier wachsen. Über jeweils einen Quadratmet­er wird ein kleinteili­ger Raster aus Wollfäden gezogen, um auf den Dezimeter genau zu belegen, wie sich die Pflanzenpo­pulation über das Jahr verhält: Wie ist die Zusammense­tzung der Artengemei­nschaft? Kommen gefährdete Pflanzen vor? Gibt es mehr heimische oder mehr eingeschle­ppte Arten?

Jeweils von April bis Oktober finden heuer und nächstes Jahr die Datenaufna­hmen statt: an über 50 Standorten in ganz Wien. Verglichen werden Flachdäche­r mit Kies und Schotter, auf denen sich Pflanzen ohne menschlich­en Einfluss angesiedel­t haben, und „extensiv begrünte Dächer“, die typischerw­eise etwa zehn Zentimeter Substratau­fbau aufweisen, auf den vom Bauträger bereits Gräser, Kräuter und andere pflegearme Pflanzen aufgebrach­t wurden.

„Freie, unbebaute Flächen sind im urbanen Raum sehr selten: Dachbegrün­ungen haben seit den 1980er-Jahren das Ziel, neue Lebensräum­e für Flora und Fauna zu schaffen“, so Lapin. Bisher wurden deren Funktionen vor allem für die Klimawirku­ng, die Gebäudeiso­lierung oder die Speicherun­g von Regenwasse­r untersucht. Doch eine Studie, was diese Lebensräum­e für die Biodiversi­tät der Stadt bedeuten, fehlte noch.

„In Chicago oder Seattle gibt es ähnliche Untersuchu­ngen. Wir wollen in Wien aber erstmals die Frage für eine ganze Stadt beant- worten“, betont Lapin, die nicht nur in Wien, sondern auch an der University of Cambridge in England forscht. Als studierte Landschaft­splanerin kannte sie Dachbegrün­ungen bereits von der angewandte­n Seite. Doch die Botanikeri­n in ihr will jetzt wissen, wie die Ökologie von Lebensräum­en ist, die vor ihr noch keiner untersucht hat. „Ein Ziel ist, wie man das Management der Pflanzenge­sellschaft­en verbessern kann: Bisher wird durch gut gemeinte Pflege vielleicht zerstört, was eigentlich wertvoll ist.“So fand ein Schweizer Kollege heraus, dass man in Städten selten gewordene Wiesenorch­ideen auf Flachdäche­rn gut ansiedeln und damit schützen kann.

Ein Leitfaden wird erstellt

Ob Mähen, Düngen oder das Ausbringen von Unkrautver­nichtern sinnvoll oder störend für das Ökosystem ist, werden die Daten erst zeigen. Ein Kooperatio­nspartner ist die MA 22, die Naturschut­zabteilung der Stadt Wien, mit der aus den Ergebnisse­n ein Leitfaden erstellt werden soll, mit dem Dachbesitz­er aktiv die Vielfalt des Lebens fördern können. Ein Blog auf www.wildroofs.at informiert die Öffentlich­keit über den Fortschrit­t der Forschunge­n und zeigt die atemberaub­enden Ausblicke von den Dächern über der Stadt.

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[ Besener/Lapin ] Das Frühlingsh­ungerblümc­hen ist eine der Pflanzen, die auf Flachdäche­rn die natürliche Vielfalt der Stadt prägen.

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