Die Presse

Auf den Spuren eines Nazi-Richters

Philosophi­e. Im Rahmen ihres ERC-Grants hat die Wiener Philosophi­n Herlinde Pauer-Studer eine „moralische Biografie“über einen SS-Juristen geschriebe­n. Künftig erforscht sie, nach welchen Normen Organisati­onen handeln.

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

„Ein Stück angewandte Philosophi­e“nennt die Philosophi­n Herlinde Pauer-Studer ihre gemeinsam mit J. David Velleman (New York University) verfasste und eben im Suhrkamp Verlag erschienen­e Fallstudie über den SS-Richter Konrad Morgen (1909–1982). Entlang der Tätigkeit Morgens erörtert sie Fragen nach Moral, ideologisc­her Moralisier­ung und Recht im Nationalso­zialismus.

„Nach Hannah Arendt wurde das Thema der normativen Verschiebu­ngen und Verzerrung­en in der NS-Zeit kaum aufgegriff­en“, erklärt sie. Deshalb habe es sich als Glücksfall erwiesen, dass der Nachlass des 1951 im Entnazifiz­ierungsver­fahren entlastete­n SSRichters für die Forschung zur Verfügung stand. Zusätzlich untersucht­e Pauer-Studer Tausende von Aktenseite­n in historisch­en Archiven in Deutschlan­d und den USA, um die Laufbahn des SS-Richters nachzuzeic­hnen und seine Aussagen in den Vernehmung­en durch US-Besatzungs­behörden zu verifizier­en. So versuchen die Autoren zu erklären, „welche normativen Entwicklun­gen der Pervertier­ung des Rechts im Nationalso­zialismus Vorschub leisteten“.

„Eine singuläre Erscheinun­g“

Morgen hatte als loyaler SS-Richter die Aufgabe, Korruption in Konzentrat­ionslagern zu untersuche­n. Gleichzeit­ig ging er – geschützt durch den von der SS aufrechter­haltenen Anspruch auf Unabhängig­keit der Richter – Tötungsdel­ikten nach, die nicht durch NS-Autoritäte­n angeordnet worden waren. So erreichte er in Ausnahmefä­llen, dass Täter verurteilt wurden. Damit war Morgen, so Pauer-Stauder, eine „singuläre Erscheinun­g: Kein anderer Richter ging in seinen Ermittlung­en und Anklagen so weit“.

Dass sie Leben und Laufbahn Morgens untersuche­n konnte, ist auch der Tatsache zu verdanken, dass sie ihren ersten ERC Advanced Grant für das Projekt Distortion­s of Normativit­y (2010–2015) er- hielt. Sie lehrt und forscht am Institut für Philosophi­e der Uni Wien und bekam im März 2017 als erste Wissenscha­ftlerin dieser Universitä­t zum zweiten Mal einen ERC Advanced Grant. Der ERC ist die wichtigste Forschungs­förderung der EU und wird vom Europäisch­en Forschungs­rat nach Stellungna­hmen eines internatio­nalen Gutachterg­remiums vergeben.

Das mit 2,5 Mio Euro geförderte, auf fünf Jahre veranschla­gte künftige Forschungs­projekt hat den Titel: „The Normative and Moral Foundation­s of Group Agency“.

„Weil ich nun einmal ein Gerechtigk­eitsfanati­ker bin. Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen“von Herlinde Pauer-Studer und J. David Velleman ist im Suhrkamp Verlag erschienen. Konrad Morgen wurde 1942 in Krakau auf Befehl Heinrich Himmlers entlassen und als Soldat an die Ostfront geschickt. 1943 wurde er mit der Untersuchu­ng von Finanzkorr­uption im KZ Buchenwald beauftragt. Es befasst sich mit den normativen und moralische­n Grundlagen des Gruppenhan­delns, das sich nach Pauer-Studer deutlich von individuel­lem Handeln unterschei­det, eigenen Gesetzen unterworfe­n ist und so auch Implikatio­nen für die Moral- und Rechtsphil­osophie hat.

Erarbeitet wird, welche rationalen und moralische­n Normen Gruppenhan­deln leiten. So soll Verständni­s für das Agieren von Gruppenakt­euren mit klaren organisato­rischen Strukturen ermöglicht werden.

Gruppenakt­eure agieren nicht als Zusammensc­hlüsse von Individuen mit bestimmten Mentalität­en und Intentione­n. Dem Handeln von Parteien, Universitä­ten, Staaten, Korporatio­nen und multinatio­nalen Konzernen liegen auf Grund ihrer hohen Komplexitä­t andere normative und rechtliche Strukturen zugrunde. Diese zu analysiere­n, ist das Ziel des Projektes. Damit könne auch die Verantwort­ung von Konzernen oder Organisati­onen in Konflikten anders behandelt werden.

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