Anruf und Absage Beschreibung eines Zimmers
Dass die Briefe von Johannes Bobrowski nun ediert sind, ist die eigentliche Sensation zu seinem 100. Geburtstag. Die Kommentare des Herausgebers erschließen nicht nur Biografisches, sondern ein ganzes Kapitel deutscher Literatur- und Zeitgeschichte.
Wer einmal eingetaucht ist in den Sound der Gedichte von Johannes Bobrowski, wird sie schwerlich wieder vergessen. So manches aus den verschiedenen Tendenzen der Lyrik der 1960er-Jahre – ob politisch engagiert oder sprachexperimentell – hat inzwischen Patina angesetzt, aber Bobrowski, damals ein faszinierend fremdartiger Monolith in der literarischen Landschaft, lässt noch immer aufhorchen. Das archaisch Erdschwere dieser Dichtung, deren Rhythmus und Satzbau aus der freirhythmischen Odentradition seit Klopstock und Hölderlin kommt, vergegenwärtigt nicht nur vergessene Landschaften, sondern schreibt ihnen auch historisch-politische Erinnerung ein.
Bobrowskis Landschaften: Sie gehören allesamt zu seinem Kontinent Sarmatien – „eine Bezeichnung, die sich bei Herodot für die Gegend nördlich des Schwarzen Meeres findet, eine ferne, weite Landschaft, die für Bobrowski zu einem neuen künstlerischen Entwurf wurde, ein geschichtlicher Raum, der in der Jetztzeit gespielt wird“, wie Helmut Böttiger im Nachwort der zum 100. Geburtstag Bobrowskis endlich wieder lieferbaren „Gesammelten Gedichte“schreibt.
Bobrowski wurde 1917 im ostpreußischen Tilsit geboren – in jener Stadt, die heute Sowjetsk heißt und zum KaliningradGebiet Russlands gehört. In seinen Gedichten, Erzählungen und Romanen kreist er immer wieder um seine Kindheits- und Jugendheimat im heutigen Litauen. Sein Umgang mit ihnen steht in einer Spannung, die der Titel des ersten und letzten Gedichts des Bandes „Sarmatische Zeit“fast thesenhaft auf den Punkt bringt: „Anruf“und „Absage“. Anruf – das ist das Evozieren jener Landschaft, in der Bobrowski aufgewachsen und die ihm ein Leben lang nachgegangen ist (der Prosatext „Käuzchen“zeigt es besonders intensiv). Schon der „Anruf“mündet in die Absage, in die Erkenntnis: „Du wirst ein Fremder sein. Bald.“Doch selbst die „Absage“ist noch durchwirkt von der unwiderruflichen Bindung an diesen Raum: „Dort / war ich. In alter Zeit. / Neues hat nie begonnen.“So beginnt die letzte Strophe des Gedichts.
Schon der Anruf weitet die Kindheitslandschaft zum Sarmatischen Raum: Wilna
Johannes Bobrowski Gesammelte Gedichte 752 S., geb., € 36 (Deutsche Verlags-Anstalt, München) Johannes Bobrowski Mäusefest 144 S., Ln., € 17,50 (Wagenbach Verlag, Berlin) Johannes Bobrowski Briefe 1947–1965 Hrsg. von Jochen Meyer. 4 Bde. im Schuber. 2627 S., geb., € 205 (Wallstein Verlag, Göttingen) und Nowgorod sind die Städte, die angerufen werden. Nach Russland ist Bobrowski als Soldat der Wehrmacht gekommen. Die Erlebnisse der Kindheit und Jugend (auch die Tradition multikulturellen Zusammenlebens) stehen in Zusammenhang mit deutscher Aggression in diesem Raum. Bobrowski hat sie zum Thema gemacht, sie in seinen Landschaften gesehen: eine Gewaltgeschichte von den planmäßigen Massenmorden des Deutschen Ordens – man kann vom Genozid am Volk der Pruzzen sprechen – bis zum Zweiten Weltkrieg. Das vor allem ist das inhaltliche Verdienst Bobrowskis: dass er bei der Thematisierung der Vergangenheit nicht mit dem Finger auf andere gezeigt, sondern im eigenen Haus, im eigenen Umfeld Kritik geübt hat: als Deutscher an Deutschland, als Christ an der Gewaltgeschichte des Christentums. Vor vier Jahren ist Johannes Bobrowski zurückgekehrt in die Landschaft seiner Kindheitssommer und der Herkunft seiner Frau, Johanna Buddrus. In der litauischen Kleinstadt Vilkyskiaiˇ (das Wilkischken seiner Gedichte) gibt es das einzige Bobrowski-Museum, denn hierher wurde das originale Arbeitszimmer Bobrowskis aus Berlin-Friedrichshagen transferiert, das durch das Buch „Beschreibung eines Zimmers“von Gerhard Wolf bekannt geworden ist.
Man fragt sich: Hat Deutschland dem Abtransport des Arbeitszimmers, in dem so viele Treffen von Autoren stattfanden und sich Literaturgeschichte verkörpert hat, tatenlos zugesehen? War es der Stadt und dem Staat kein Bemühen wert, es in Berlin zu halten? Wer aus Litauen oder gar aus Deutschland wird es in diesem kleinen Ort mit seiner Randlage, fast ohne Anbindung an den öffentlichen Verkehr, besuchen?
Mitten in Vilkyskiaiˇ steht ein Denkmal für diese protestantischen Flüchtlinge vor den Salzburger Erzbischöfen, die in Bobrowskis Roman „Litauische Claviere“zweimal erwähnt sind. Doch Bobrowskis wichtigste Verbindungen zu Österreich laufen auf einer anderen Achse. 1962 erhielt er als erste öffentliche Anerkennung den AlmaJohanna-Koenig-Preis; Erich Fried hat Bo- browskis Wien-Aufenthalt aus diesem Anlass beschrieben, und Bobrowski-Reminiszenzen finden sich auch bei H. C. Artmann und Friederike Mayröcker (nachzulesen im dem 2015 vom Bobrowski-Spezialisten Andreas Degen herausgegebenen Band „Sarmatien in Berlin“). Mit Gerhard Fritsch, einem der Juroren des Preises, stand Bobrowski in Verbindung, und vor allem mit dessen Sohn, dem Wiener Buchhändler und Antiquar Georg Fritsch, der Bobrowski durch die litauische Herkunft mütterlicherseits besonders nahestand.
Bobrowski wollte ein gesamtdeutscher Autor sein: „Ich werde mich nicht auf ostdeutsch firmieren lassen, sowenig wie auf ,heimlich westdeutsch‘. Entweder ich mach deutsche Gedichte oder ich lern Polnisch“, schrieb er einmal an seinen schwierigen Freund Peter Jokostra. Dass Bobrowskis Briefe nach einer Vorarbeit von fünf Jahrzehnten nun ediert sind, ist die eigentliche Sensation zu seinem 100. Geburtstag. Die reichen Kommentare des Herausgebers, Jochen Meyer, erschließen nicht nur Biografisches, sondern ein ganzes Kapitel Literatur- und Zeitgeschichte. Ein Register ermöglicht das Auffinden von Briefpartnern. So kann man etwa in das Entstehen der Poetik Bobrowskis Einblick nehmen, indem man die Korrespondenz mit Peter Huchel liest, der für Bobrowskis erste wesentliche Veröffentlichung in der Zeitschrift „Sinn und Form“verantwortlich war. Und da es leider noch keine Bobrowski-Biografie gibt, sind diese Briefe auch die unumgängliche Quelle für seine privaten Lebensumstände.
Nach der Neuauflage des Romans „Levins Mühle“zum 50. Todestag 2015 ist jetzt der Prosaband „Mäusefest“wieder erhältlich. Seine Prosa ist mündlichem Erzählen abgelauscht, der Erzähler mischt sich unter seine Figuren, spricht sie an und kommentiert sie, hält aber zugleich ironische Distanz zu ihnen. Auf andere Weise als in der Lyrik kombiniert Bobrowski in seiner Prosa archaische Züge mit modernem Kalkül, das jede naive Identifikation unterbindet. Wie in seiner unverwechselbaren Lyrik betritt er ein Terrain, für das er selbst die Formel gefunden hat: „Wenn verlassen sind / die Räume, in denen Antworten erfolgen“. Q