In Ruinen der Utopie
Große Aufregung in Katwijk, einem Flecken an der niederländischen Küste. Ein kolossales Ungeheuer ist gestrandet. 15 Meter lang, geschätzte 40 Tonnen schwer, jedenfalls aber tot. Ein Pottwal, wie man ihn in diesen Breiten noch nie gesehen hat. Neugierige stürmen das Tier, man klettert auf seinem Rücken herum, beginnt den Penis zu vermessen und den Körper mit Axt und Hacke aufzubrechen, um sich das begehrte Fett zu sichern. Der Maler Hendrick Goltzius hat die Szene festgehalten, zahlreiche Stiche davon gingen um die Welt. Und mit ihnen Staunen und Entsetzen: Was hat ein Pottwal, den man normalerweise nur in Gewässern in der Nähe des Polarkreises sichtet, so weit im Süden zu suchen?
„Die Welt aus den Angeln“nennt Philipp Blom sein jüngstes Buch. Er holt weit aus, um ein nur auf den ersten Blick recht ungewöhnliches Thema aufzurollen und dabei die Brücke ins Heute zu schlagen. Um 1400, so erfahren wir, sinken die Durchschnittstemperaturen um vier bis fünf Grad. Flüsse frieren zu, Gletscher wachsen und bilden Seen, die regelmäßig ausbrechen und die Täler überfluten. Die Tiere flüchten sich in wärmere Gegenden, der Mensch harrt aus. Die Kleine Eiszeit stürzt Europa in eine Krise. Die größtenteils auf Getreide basierende Landwirtschaft bricht ein, schlechte Ernten, Hungersnöte und Seuchen beuteln das verelendende Volk.
Der Dreißigjährige Krieg verschlingt immer mehr Geld, soziale Unruhen und Bauernaufstände stellen die Aristokratie vor wachsende Probleme. Weltuntergangsfantasien verschaffen sich Raum, die Panik vor dem Ruina mundi schürt den Hass auf Juden, Hexen und Ketzer, die man erbarmungslos verfolgt, Ängstliche beschwören Gott und die Wiederkunft des Messias oder landen in den Armen heilversprechender Propheten und Magier. Optimisten reagieren mit Zuversicht auf die Umschwünge. Rationalismus und Aufklärung wagen erste zaghafte Schritte, Europa entwickelt neue Gesetze des Zusammenlebens und der Toleranz, um sich wirtschaftlich und sozial zu behaupten und reformieren.
In jenen Jahrzehnten der Krise wandelt sich die festgefahrene, stagnierende Wirtschaft in ein dynamischeres System, einen Vorläufer des Kapitalismus. Der Ackerbau wird vielfältiger, der Handel blüht. Weizen wird aus Nordosteuropa importiert, Gold, Silber und Edelsteine, aber auch Kartoffeln, Kaffee und Tee kommen aus Südamerika, Afrika und Asien. In den Kolonien entstehen Produktionsstätten, in denen die Bevölkerung geknechtet wird. Sofern man sie nicht als Sklaven verkauft. Gleichzeitig setzt durch den Buchdruck eine Bildungsrevolution ein: Der Analphabetismus wird zurückgedrängt, die Bürger gewinnen an Macht. Sie gefallen sich in der Rolle der Mäzene und bleiben dennoch von den zentralen politischen Ämtern ausgeschlossen. Entsprechend laut klingt der Ruf nach einer Gesellschaftsordnung, die den Herrschaftsanspruch nicht mehr als ererbt oder gottgegeben anerkennt.
Ein breites Panorama, das Blom vor uns ausbreitet. Natürlich gibt es Anmerkungen und Bibliografie. Doch der wissenschaftlich geschulte Historiker und Journalist hält sich damit nicht lang auf und springt dafür mitten hinein ins Erzählen: Das ist seine Stärke, und dafür verzeiht man ihm die eine oder andere Redundanz. Sein Buch zieht von der Meteorologie zur Wirtschaftsgeschichte, Soziologie und Kunst, von der Theologie zur Philosophie und Forschung und bewahrt dabei eine unglaubliche Leichtigkeit.
Den Querdenkern und Querulanten gehört Bloms besondere Liebe: Unter ihnen Pierre Bayle, Verfasser einer monumentalen Enzyklopädie, oder Baruch de Spinoza, der „Fürst des Atheismus“und Begründer der
Qmodernen Bibelkritik, einer der radikalsten Denker der Neuzeit. Anhand der Porträts solcher Persönlichkeiten sind Bloms Klugheit und Witz besonders deutlich zu studieren. Selbst wenn etliche der in sich eigenständigen Essays nur lose miteinander verzahnt sind und der Autor ordentlich herumschrauben muss, um diese Abschnitte in das große Ganze zu integrieren.
Bloms Analyse der Blindheit, mit der wir den Klimaveränderungen und den damit verbundenen ökonomischen Umbrüchen und Migrationsbewegungen begegnen, klingt desillusioniert. „Der liberale Traum, den einige Denker des 17. Jahrhunderts zu träumen wagten, ist noch keine 400 Jahre alt und ist erst seit drei Generationen zumindest der offiziellen Rhetorik nach Grundlage der internationalen Politik. Drei Jahrhunderte Debatten, Revolutionen und Verfolgung waren nötig, um Menschenrechte und offene Gesellschaften zu politischen Realitäten werden zu lassen. Es kann viel, viel schneller gehen, sie wieder zu zerstören.“
Sofern uns überhaupt Zeit bleibt, die Erkenntnisse der Aufklärung auf sinnige Weise in unsere Tagen zu retten und damit ihre Krise zu ergründen. „Gefangen im Panoptikum“nennt Philipp Blom ein zweites Buch, das vom „Leben in den Ruinen der aufgeklärten Utopie“berichtet: fast schon eine Art Nachschrift auf die Kleine Eiszeit.
Wohin sind die Träume von einer emanzipierten, sozialen Gemeinschaft abgedriftet? Wohin jagt eine Gesellschaft, die der Seelenfängerei durch Konsum und Digitalisierung ins Netz gegangen ist und sich kaum mehr freizuspielen vermag von der Diktatur des Markts und der kommerziellen Transzendenz. „4000 Jahre organisierte Religion, 400 Jahre Aufklärung – und wir verhalten uns im Kollektiv noch immer genau wie Bakterien. Jeder Organismus breitet sich aus, so weit er kann, frisst, was er kann, eine amoralische Tatsache.“Ein Befund, den Blom elegant darlegt. Hobbes, Voltaire und Rousseau haben wohl zu wenig auf die Kraft der Hoffnung gesetzt. Sie könnte unseren Blick umlenken, sofern wir die Pfeile zum Notausgang überhaupt wahrnehmen. Hinter dieser Tür wartet vielleicht doch noch ein Versprechen. Wäre zumindest zu hoffen.
Philipp Blom Die Welt aus den Angeln Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart. 302 S., geb., € 24,70 (Hanser Verlag, München) Philipp Blom Gefangen im Panoptikum Reisenotizen zwischen Aufklärung und Gegenwart. 95 S., brosch., € 8 (Residenz Verlag, Wien)