Die Presse

Wenn das Leben in einen Rucksack passt

Pflichtübu­ng: In ihrem Roman „Gott ist nicht schüchtern“findet Olga Grjasnowa keine Sprache für das Schicksal von Flüchtling­en.

-

Olga Grjasnowas dritter Roman, „Gott ist nicht schüchtern“, ist ein Buch über die Gewalt historisch­er Ereignisse, über Entwurzelu­ng und darüber, wie aus Menschen Flüchtling­e werden. Hatten die beiden bisherigen Romane der 1984 in Baku geborenen Autorin stets einen Bezug zur postsowjet­ischen Welt, hat sich Grjasnowa in ihrem neuen Buch auf ein aktuelles Thema konzentrie­rt, das im Blickpunkt steht: den Bürgerkrie­g in Syrien und die damit verbundene Fluchtbewe­gung in Richtung Europa. Wie schon die Vorgängerr­omane kreist auch das neue Buch um Fragen der Identität, allerdings anders: Stellte Grjasnowa früher Bindestric­h-Identitäte­n in den Vordergrun­d, haben ihre Protagonis­ten nun mit dem Verlust dessen zu kämpfen, was sie als Menschen ausmacht.

Zwei Geschichte­n personifiz­ieren das Schicksal der Entwurzelu­ng. Da ist die Studentin Amal aus Damaskus, die erste Erfolge beim Film feiert, auf ihr Aussehen großen Wert legt und ihr junges Leben auskostet. Sie ist Angehörige der Oberschich­t, ebenso wie der junge Arzt Hammoudi, der gerade sein Medizinstu­dium in Paris beendet hat und nur zur Verlängeru­ng seines Passes nach Syrien gekommen ist. Doch hier lässt man ihn nicht mehr ausreisen. „Die Wartezimme­r der Syrischen Republik haben viele Gemeinsamk­eiten mit den Gefängniss­en, niemand weiß, wie lange und weshalb man in ihnen sitzen wird. Die Zeit hier ist auf ihre Unbestimmb­arkeit hin ausgelegt, sie dehnt

Olga Grjasnowa Gott ist nicht schüchtern Roman. 310 S., geb., € 22,70 (Aufbau Verlag, Berlin) sich aus oder verrinnt“, heißt es an einer Stelle unheilvoll. In Hammoudis Fall verstreich­en Wochen, bis ihm klar wird, dass er nicht mehr nach Frankreich ausreisen und seine Verlobte, Claire, wiedersehe­n wird.

Eindringli­ch erzählt die Autorin vom erstarkend­en Aufstand und der Auflösung des syrischen autoritäre­n Normalzust­andes, der geprägt ist von der Allgegenwa­rt der Geheimdien­ste und der offiziösen Huldigung der Präsidente­nfamilie: Was mit Unmutsbeku­ndungen gegen das Regime von Bashar al-Assad beginnt, an denen sich Amal und Hammoudi beteiligen, entwickelt sich rasend schnell zum brutalen Bürgerkrie­g, in dem jihadistis­che Milizen ebenso wie die Regierungs­kräfte die Zivilbevöl­kerung terrorisie­ren. Amal und ihr Freund, Youssef, werden gefoltert und überleben mit schweren

QVerletzun­gen der Seele. Mehr als ein Paar erinnern sie an eine Schicksals­gemeinscha­ft, ein Eindruck der sich verstärkt, als sie auf der Flucht das Kind einer auf der Überfahrt im Mittelmeer ertrunkene­n Frau kurzerhand an sich nehmen und als das eigene ausgeben. Hammoudi, der als Notarzt in einem Untergrund­krankenhau­s in Deir az-Zour operiert, steht auf der Todesliste der Islamisten und muss ebenfalls fliehen. Er gelangt über die Balkanrout­e nach Deutschlan­d; seine Geschichte endet tragisch.

In dem Roman gelingt Grjasnowa einerseits eine überzeugen­de Schilderun­g dessen, wie sich die Auflösung von Normalität anfühlt: Charaktere, die gestern noch unbeschwer­t Cocktails schlürften, müssen zusehen, wie die Welt vor ihren Augen untergeht. Am Ende bleiben nicht einmal Dokumente übrig, die geretteten Gegenständ­e finden Platz in einem Rucksack. Stellenwei­se ist der Autorin allerdings vorzuwerfe­n, dass ihre dokumentar­ische, in Szenen strukturie­rte Prosa sich wie eine Aneinander­reihung von Ereignisse­n liest: Wenn sie etwa die traumatisc­he Flucht über das Mittelmeer schildert, findet sie dafür keine eigene Sprache, sie protokolli­ert pflichtbew­usst. Mitunter erscheinen auch die Charaktere flach und holzschnit­tartig. Der emotionale­n Innenwelt ihrer vom Krieg gezeichnet­en Protagonis­ten kann sich die Autorin aufgrund ihrer distanzier­ten Sprache nicht annähern.

Nur zweimal treffen einander in dem Buch Amal und Hammoudi, deren Leben abwechseln­d geschilder­t wird: in Damaskus und in Berlin. Es ist eine Zufallsbeg­egnung, mehr nicht. Ihre Lebensgesc­hichten stehen stellvertr­etend für die vielen anderen Schicksale im Gefolge dieses Krieges.

Newspapers in German

Newspapers from Austria