Schwer wie die Tür zur Hölle
„Madrid, Mexiko“: eine Räubergeschichte des mexikanischen Schriftstellers Antonio Ortuno.˜
Wenn Lügen wirklich kurze Beine hätten, könnten wir den anonymen Verfasser des Waschzettels noch an der Tür abfangen und ihm für seine Lobhudelei wahlweise „die Fresse polieren“, „den Arsch aufreißen“oder einen derart großen Schrecken einjagen, dass er sich, „die Eier vor Angst auf die Größe von Schrotkugeln zusammengeschrumpft“, in eine Ecke verdrückt. Auf diese Weise hätten wir nicht nur inhaltlich zum Roman aufgeschlossen, sondern auch das künstlerische Niveau seines Autors erreicht, der laut Klappentext „mit klarer, präziser Sprache davon erzählt, was es heißt zu emigrieren, und von den historischen Dimensionen, die die Menschen zur Flucht drängen“.
Nichts davon ist wahr. Der Mexikaner Antonio Ortun˜o, Jahrgang 1976, hat sich eine wüste und in allen Details unglaubwürdige Story ausgedacht, die zwischen Guadalajara (dem mexikanischen) und Madrid spielt, Großeltern und Enkelkinder aufmarschieren lässt – die mittlere Generation wird übersprungen –, in Blut und Sperma schwelgt und, weil Sadismus allein auf die Dauer nicht trägt, zwei Themen verwurstet, auf die er der eigenen Familiengeschichte wegen gekommen ist: den Bürgerkrieg in Spanien; Verbrechen und Armut im heutigen Mexiko.
Nach Ortun˜os Darstellung ging es im Spanienkrieg im Wesentlichen um die Rivalität zwischen spätpubertären, geistig minderbemittelten Killern, von denen sich die einen für Kommunisten und die anderen für Anarchisten hielten. Die Anarchisten sind die Guten, sie werden von den Bösen bis nach Mexiko verfolgt, ins Exil, wo ein paar Jahrzehnte später einer ihrer Enkel eine Eifersuchtstragödie zwischen einer lüsternen Antiquitätenhändlerin und einem schmierigen Gewerkschaftsboss nur dadurch überlebt, dass er in das Land seiner Vorfahren flieht. Dort trifft er eine Verwandte aus einem Nebenstrang der Familie, die sich mit verschollen geglaubten Manuskripten berühmter Schriftsteller ein Heidengeld verdient.
Alle Menschen sind Verbrecher
Dass sie es in Kokain und Sex investiert, ist gleichsam die aktuelle Variante zum Zeitvertreib der Großväter, die mit Waffengewalt „Brot und Frauen. Und Wein“erbeutet hatten. Man könnte sich mit diesem Räuberroman abfinden, wäre Ortun˜o nicht auf die Idee gekommen, ihm noch eine tiefsinnige Betrachtung aus dem Mund eines alten, ehrbaren Syndikalisten anzuhängen. Nämlich die, dass Kain die Menschen nur geschaffen hat, damit sie sich in einem gleichen: „Sie seien alle Verbrecher. Kriminelle, jawohl. Wegelagerer, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen.“Manchmal leider auch mit dem Schreiben von Romanen.
Bemerkenswert ist Ortun˜os stilistische Kraftmeierei. Wenn jemand gerade noch einem Mordanschlag entkommen ist, dann irren Hirnmasse, Lungenflügel und so weiter „wie orientierungslose Würmer durch seinen Körper“, wird eine Tür aufgedrückt, dann „quält sie sich nur zögerlich aus dem Türrahmen“, bei einer der unzähligen Schlägereien „kullern die Backenzähne über den Boden“, und eine Frau hat, nachdem sie eine Flasche Brandy geleert hat, „Kinnladen so schwer wie die Tür zur Hölle“.
Hans-Joachim Hartstein hat sich erfolgreich bemüht, den niederen Ton des Originals zu treffen. Es wäre zu überlegen, sein Übersetzerhonorar um eine Schmutz-und-Schund-Zulage aufzustocken. Q
Antonio Ortuno˜ Madrid, Mexiko Roman. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein. 224 S., geb., € 20,60 (Kunstmann Verlag, München)