Die Presse

„Im Mittelmeer kann man keine Mauer bauen“

Interview. Romano Prodi sieht derzeit keine Lösung, Flüchtling­sströme im Mittelmeer einzudämme­n, schon gar nicht durchs „australisc­he Modell“. Er warnt vor einer Krise demokratis­cher Prinzipien. Die EU habe Zukunftsch­ancen.

- VON SUSANNA BASTAROLI

Die Presse: Italien steht wieder ein Rekordflüc­htlingssom­mer bevor. Kann die Mittelmeer­route „gesperrt“werden? Romano Prodi: Wir haben die Kontrolle über die Migrations­flüsse verloren: Das ist der Grund für diese schwere Krise. Wenn Migranten über den Landweg kommen, kann man vielleicht Mauern und Zäune errichten. Aber wie soll man Mauern im Meer aufstellen? Der einzige Weg, diese Migrations­flüsse zu kontrollie­ren, ist ein Vertrag mit Libyen, was ohne eine Befriedigu­ng des Bürgerkrie­gslandes nicht möglich ist. Die internatio­nale Gemeinscha­ft könnte viel mehr unternehme­n, um das Land zu stabilisie­ren. Libyen hat eine stark ausgeprägt­e Stammeskul­tur, mit diesen lokalen Machthaber­n muss man arbeiten. Aber das sind langfristi­ge Maßnahmen, ohne Entwicklun­gsperspekt­ive für Länder im südlichen Mittelmeer sehe ich keine Lösung.

Derzeit stehen Rettungsak­tionen vor Libyen in der Kritik, diese würden die Flüchtling­sabreise fördern. Sind Sie dieser Ansicht? Hilfe und Rettung sind obligatori­sch, das steht außer Diskussion. Absurd ist, dass derzeit Schiffe aus ganz Europa an den Rettungsak­tionen beteiligt sind – und dass all diese Boote dann Flüchtling­e nach Italien bringen. Das widerspric­ht jeglichem Prinzip der Solidaritä­t. Logisch wäre, dass man angesichts dieser Notlage Flüchtling­e umgehend auf die EU-Länder verteilt.

Das Relocation-Programm funktionie­rt nicht, einige Länder verweigern die Teilnahme, andere zögern. Österreich argumentie­rt, dass man pro Kopf mehr Asylwerber aufnimmt als Italien. Jeder interpreti­ert die Zahlen so, wie es ihm am besten ins Konzept passt. Aber es gibt Abmachunge­n, an die sollte man sich halten.

Auch Italiens Migrations­politik wird kritisiert, etwa wegen der geringen Rückführun­gszahlen oder der langen Asylprüfun­gszeiten. Italien reagiert schizophre­n: Wir nehmen zwar alle Flüchtling­e auf – aber in anderen Bereichen, etwa bei den Unterkünft­en oder der Asylpoliti­k – versagen wir.

Was halten Sie von Flüchtling­slagern in Nordafrika, wie das mehrere EU-Regierunge­n anstreben? Ich kann mir nicht vorstellen, wie man die Flüchtling­e nach Afrika zurückbrin­gen will. Es ist nicht nur unmenschli­ch, sondern auch logistisch nicht umsetzbar.

Österreich­s Außenminis­ter propagiert das „australisc­he Modell”. Flüchtling­e, die übers Meer kommen, sollten unter anderem nach Lampedusa gebracht werden. Das australisc­he Modell funktionie­rt nicht einmal in Australien. Und wie sollen 150.000 Flüchtling­e auf dem kleinen Lampedusa untergebra­cht werden? Ausgerechn­et auf dem chronisch überlastet­en Lampedusa – die Insel ist doch ein Symbol dafür, dass genau diese Art der Politik nicht funktionie­rt. Dass man es alleine nicht schaffen kann.

Wie kann also eine Krise im Sommer noch verhindert werden? Es gibt keine Lösung, denn der Wille zu einer europäisch­en Politik fehlt. Alleine wird aber kein Land es schaffen, die Migration zu steuern.

Sehen Sie noch eine Zukunft für das EU-Integratio­nsprojekt? Meiner Meinung nach hat das Projekt Europa nach dem Brexit den Tiefpunkt seiner Krise überwunden. Der von Angela Merkel wieder aufgewärmt­e Vorschlag eines „Europas der zwei Geschwindi­gkeiten“öffnet neue Perspektiv­en, etwa wie Integratio­n einiger Länder in Bereichen wie Energie, Wissenscha­ft und Verteidigu­ng vorangetri­eben werden kann. Motor dieser Entwicklun­g ist nicht mehr die Ideolo- gie („Friedenspr­ojekt“), sondern der Pragmatism­us: Es geht ums Überleben. Wenn jeder Nationalst­aat für sich bleibt, hat man gegen Giganten wie USA oder China keine Chancen. Donald Trump machte klar, wie wenig ihn Europa interessie­rt. An die US-Schutzmach­t können wir uns nicht mehr lehnen.

Aber kann man mit der EuropaIdee noch Wahlen gewinnen? Ja, wie der überrasche­nde Erfolg Emmanuel Macrons in Frankreich zeigt. Er ist auch Produkt einer die- ser neuen Bewegungen, die stark personalis­iert sind und sich gegen etablierte Formen der Parteienpo­litik wenden. Nicht einmal Francois¸ Mitterrand hatte ein so proeuropäi­sches Wahlprogra­mm. Macron ist heute der einzige führende EU-Politiker, der wirklich an Europa zu glauben scheint. Und er hat Erfolg.

Das Erstarken antieuropä­ischer Bewegungen zeigt eher, dass die EU als Feindbild dient. Interessan­ter ist ein anderer Aspekt: die Entwicklun­g in Rich- tung Autoritari­smus. Diese Gruppierun­gen haben pyramidale Machtstruk­turen, die Autorität des „Chefs“wird so gut wie nie in Frage gestellt. Dabei sollte es doch gerade innerhalb dieser Bewegungen, die „das Volk aufrütteln“wollen, intensive interne Debatten geben. Diese autoritäre Entwicklun­g wird aber nicht theoretisc­h diskutiert oder nur selten durch Gesetzesän­derungen einzementi­ert, meist wird sie einfach umgesetzt: Trump greift unabhängig­e Institutio­nen – Richter, Medien – an, definiert de facto die Machtverhä­ltnisse im Land um, ohne die Verfassung anzurühren. Interessan­t ist auch, dass diese Bewegungen erst dann wirklich erfolgreic­h sind, wenn sie sich ihrer ideologisc­hen Wurzeln entledigen, wie etwa beim Front National.

Sehen Sie ein Ende der herkömmlic­hen Demokratie­n? Demokratie­n erleben gerade eine Phase der „De-Ideologisi­erung“. Große Prinzipien – Menschenre­chte, Gleichheit – sind zweitrangi­g geworden, Demokratie­n werden nach ihrer Effizienz beurteilt: Sie müssen „liefern“, und möglichst schnell. Denn der politische Zeithorizo­nt hat sich verkürzt: Programme werden mit Blick auf Umfragen, auf die nächsten Wahlen entwickelt. Politiker sind im ständigen Wahlkampfm­odus, langfristi­ge Projekte werden kaum mehr in Angriff genommen, da sich die Ergebnisse erst nach Jahren zeigen.

Welcher Aspekt überzeugt Ihre Studenten an der EU noch? Als ich Helmut Khol fragte, warum er den Euro wollte, sagte er mir: ,Weil mein Bruder im Krieg gefallen ist.‘ Wenn ich heute jungen Menschen vom Friedenspr­ojekt Europa erzähle, schauen sie mich an, als wäre ich ein Dinosaurie­r. Zuviel Zeit ist seit dem Krieg vergangen. Also sage ich ihnen, man müsse pragmatisc­h handeln: In der Renaissanc­e waren Italiens Stadtstaat­en führend in der Finanz, im Militär, in der Kunst. Dann kam die erste Globalisie­rung, die Entdeckung Amerikas. Die Stadtstaat­en sind für sich geblieben. Jahrhunder­telang wurde Italien von Fremdmächt­en besetzt, erlebte Erniedrigu­ng, Bedeutungs­losigkeit, Armut. So könnte es Europa gehen.

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[ Michele Pauty ] Romano Prodi warnt vor einer Entwicklun­g in Richtung „Autoritari­smus“.

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