„Im Mittelmeer kann man keine Mauer bauen“
Interview. Romano Prodi sieht derzeit keine Lösung, Flüchtlingsströme im Mittelmeer einzudämmen, schon gar nicht durchs „australische Modell“. Er warnt vor einer Krise demokratischer Prinzipien. Die EU habe Zukunftschancen.
Die Presse: Italien steht wieder ein Rekordflüchtlingssommer bevor. Kann die Mittelmeerroute „gesperrt“werden? Romano Prodi: Wir haben die Kontrolle über die Migrationsflüsse verloren: Das ist der Grund für diese schwere Krise. Wenn Migranten über den Landweg kommen, kann man vielleicht Mauern und Zäune errichten. Aber wie soll man Mauern im Meer aufstellen? Der einzige Weg, diese Migrationsflüsse zu kontrollieren, ist ein Vertrag mit Libyen, was ohne eine Befriedigung des Bürgerkriegslandes nicht möglich ist. Die internationale Gemeinschaft könnte viel mehr unternehmen, um das Land zu stabilisieren. Libyen hat eine stark ausgeprägte Stammeskultur, mit diesen lokalen Machthabern muss man arbeiten. Aber das sind langfristige Maßnahmen, ohne Entwicklungsperspektive für Länder im südlichen Mittelmeer sehe ich keine Lösung.
Derzeit stehen Rettungsaktionen vor Libyen in der Kritik, diese würden die Flüchtlingsabreise fördern. Sind Sie dieser Ansicht? Hilfe und Rettung sind obligatorisch, das steht außer Diskussion. Absurd ist, dass derzeit Schiffe aus ganz Europa an den Rettungsaktionen beteiligt sind – und dass all diese Boote dann Flüchtlinge nach Italien bringen. Das widerspricht jeglichem Prinzip der Solidarität. Logisch wäre, dass man angesichts dieser Notlage Flüchtlinge umgehend auf die EU-Länder verteilt.
Das Relocation-Programm funktioniert nicht, einige Länder verweigern die Teilnahme, andere zögern. Österreich argumentiert, dass man pro Kopf mehr Asylwerber aufnimmt als Italien. Jeder interpretiert die Zahlen so, wie es ihm am besten ins Konzept passt. Aber es gibt Abmachungen, an die sollte man sich halten.
Auch Italiens Migrationspolitik wird kritisiert, etwa wegen der geringen Rückführungszahlen oder der langen Asylprüfungszeiten. Italien reagiert schizophren: Wir nehmen zwar alle Flüchtlinge auf – aber in anderen Bereichen, etwa bei den Unterkünften oder der Asylpolitik – versagen wir.
Was halten Sie von Flüchtlingslagern in Nordafrika, wie das mehrere EU-Regierungen anstreben? Ich kann mir nicht vorstellen, wie man die Flüchtlinge nach Afrika zurückbringen will. Es ist nicht nur unmenschlich, sondern auch logistisch nicht umsetzbar.
Österreichs Außenminister propagiert das „australische Modell”. Flüchtlinge, die übers Meer kommen, sollten unter anderem nach Lampedusa gebracht werden. Das australische Modell funktioniert nicht einmal in Australien. Und wie sollen 150.000 Flüchtlinge auf dem kleinen Lampedusa untergebracht werden? Ausgerechnet auf dem chronisch überlasteten Lampedusa – die Insel ist doch ein Symbol dafür, dass genau diese Art der Politik nicht funktioniert. Dass man es alleine nicht schaffen kann.
Wie kann also eine Krise im Sommer noch verhindert werden? Es gibt keine Lösung, denn der Wille zu einer europäischen Politik fehlt. Alleine wird aber kein Land es schaffen, die Migration zu steuern.
Sehen Sie noch eine Zukunft für das EU-Integrationsprojekt? Meiner Meinung nach hat das Projekt Europa nach dem Brexit den Tiefpunkt seiner Krise überwunden. Der von Angela Merkel wieder aufgewärmte Vorschlag eines „Europas der zwei Geschwindigkeiten“öffnet neue Perspektiven, etwa wie Integration einiger Länder in Bereichen wie Energie, Wissenschaft und Verteidigung vorangetrieben werden kann. Motor dieser Entwicklung ist nicht mehr die Ideolo- gie („Friedensprojekt“), sondern der Pragmatismus: Es geht ums Überleben. Wenn jeder Nationalstaat für sich bleibt, hat man gegen Giganten wie USA oder China keine Chancen. Donald Trump machte klar, wie wenig ihn Europa interessiert. An die US-Schutzmacht können wir uns nicht mehr lehnen.
Aber kann man mit der EuropaIdee noch Wahlen gewinnen? Ja, wie der überraschende Erfolg Emmanuel Macrons in Frankreich zeigt. Er ist auch Produkt einer die- ser neuen Bewegungen, die stark personalisiert sind und sich gegen etablierte Formen der Parteienpolitik wenden. Nicht einmal Francois¸ Mitterrand hatte ein so proeuropäisches Wahlprogramm. Macron ist heute der einzige führende EU-Politiker, der wirklich an Europa zu glauben scheint. Und er hat Erfolg.
Das Erstarken antieuropäischer Bewegungen zeigt eher, dass die EU als Feindbild dient. Interessanter ist ein anderer Aspekt: die Entwicklung in Rich- tung Autoritarismus. Diese Gruppierungen haben pyramidale Machtstrukturen, die Autorität des „Chefs“wird so gut wie nie in Frage gestellt. Dabei sollte es doch gerade innerhalb dieser Bewegungen, die „das Volk aufrütteln“wollen, intensive interne Debatten geben. Diese autoritäre Entwicklung wird aber nicht theoretisch diskutiert oder nur selten durch Gesetzesänderungen einzementiert, meist wird sie einfach umgesetzt: Trump greift unabhängige Institutionen – Richter, Medien – an, definiert de facto die Machtverhältnisse im Land um, ohne die Verfassung anzurühren. Interessant ist auch, dass diese Bewegungen erst dann wirklich erfolgreich sind, wenn sie sich ihrer ideologischen Wurzeln entledigen, wie etwa beim Front National.
Sehen Sie ein Ende der herkömmlichen Demokratien? Demokratien erleben gerade eine Phase der „De-Ideologisierung“. Große Prinzipien – Menschenrechte, Gleichheit – sind zweitrangig geworden, Demokratien werden nach ihrer Effizienz beurteilt: Sie müssen „liefern“, und möglichst schnell. Denn der politische Zeithorizont hat sich verkürzt: Programme werden mit Blick auf Umfragen, auf die nächsten Wahlen entwickelt. Politiker sind im ständigen Wahlkampfmodus, langfristige Projekte werden kaum mehr in Angriff genommen, da sich die Ergebnisse erst nach Jahren zeigen.
Welcher Aspekt überzeugt Ihre Studenten an der EU noch? Als ich Helmut Khol fragte, warum er den Euro wollte, sagte er mir: ,Weil mein Bruder im Krieg gefallen ist.‘ Wenn ich heute jungen Menschen vom Friedensprojekt Europa erzähle, schauen sie mich an, als wäre ich ein Dinosaurier. Zuviel Zeit ist seit dem Krieg vergangen. Also sage ich ihnen, man müsse pragmatisch handeln: In der Renaissance waren Italiens Stadtstaaten führend in der Finanz, im Militär, in der Kunst. Dann kam die erste Globalisierung, die Entdeckung Amerikas. Die Stadtstaaten sind für sich geblieben. Jahrhundertelang wurde Italien von Fremdmächten besetzt, erlebte Erniedrigung, Bedeutungslosigkeit, Armut. So könnte es Europa gehen.