Jede Bewegung fragt: Warum?
Staatsoper. John Crankos subtiles Puschkin-Ballett zu Musik von Tschaikowsky, die nicht aus der gleichnamigen Oper stammt, ist in exquisiter Besetzung wieder zu erleben.
Onegin“– von Tschaikowsky, seit Mitte der Sechzigerjahre gibt es dafür zwei Möglichkeiten. John Cranko hat den Puschkin-Stoff, den der Komponist zur Oper gemacht hat, in ein Ballett verwandelt. Kurt-Heinz Stolze arrangierte wenig bekannte Musik des russischen Meisters, vor allem Klavierstücke, zu einer symphonischen Partitur. Die ist nicht von jener Qualität, enthält nicht so viele „Ohrwürmer“, wie sie Tschaikowsky für seine Oper eingefallen sind, gibt aber dem Choreographen die Chance, der Handlung auf theatralisch direkt zupackende Art nachzuspüren.
Die Oper hat der Komponist ja ausdrücklich mit der Genrebezeichnung „lyrische Szenen“versehen – und vermeidet darin viele der üblichen, erfolgversprechenden dramaturgischen Kunstgriffe. Etwa verpufft das Finale des ersten Akts wirkungslos, weil die Sensoren ganz nach innen, in die Gefühlswelten der Figuren gerichtet sind. Dort lotet zwar auch Cranko hin, aber er bündelt die Rückgabe des Liebesbriefes durch Onegin und die Ballszene, während derer es im Streit um Tatjanas Schwester Olga zur Entzweiung zwischen den Freunden Onegin und Lenski kommt, zum Showdown.
Auch sucht und findet er – etwa dann, wenn Tatjana im Finale Onegins Brief zerreißt – Reprisenwirkungen, um seine Arbeit formal zu runden. Diese inszenatorische Feinarbeit nutzt das Staatsballett in der aktuellen Neueinstudierung zur differenzierten Gestaltung und zeigt sich firm in allen Lagen von Crankos Stilmix, er reicht vom derb-rustikalen Ton bis zur adeligen Polonaisen-Noblesse. Das Orchester sorgt – dank Guillermo Garcia Calvo vollkommen mit dem Tanz und häufig auch in sich selbst koordiniert – für die nötige Stimmungskulisse.
Tatjanas Seelen-Porträt
Die Solisten brillieren. Allen voran Roman Lazik, der im Onegin vielleicht seine IdealRolle gefunden hat. Grandios, wie er die gelangweilte Herablassung dieses Snobs in Bewegung und Gebärde umzusetzen weiß: Im ersten Pas-de-deux scheint jede energisch begonnene Figur müde auszulaufen; doch wird dieses Ekelpaket von einem jungen Mann in der Fantasie des jungen Mädchens zu einem Traumprinzen: In der Spiegelszene – dem Gegenstück zur „Briefszene“der Oper – ist er der leidenschaftlichste, dabei zärtlichste Liebhaber, den eine Dame sich nur erträumen kann. Die fabelhafte Nina Pola-´ kova´ ertanzt sich mit diesem Phantom-Bild ein kurzes Gastspiel im Siebenten Himmel.
Sie selbst wird dabei von der schüchternen Leseratte zur leidenschaftlichen jungen Frau; was in behutsam gesteigertem Crescendo der Arm- und Beinarbeit in der Eingangsszene ahnungsoll mitschwingt, erblüht hier zur vollen Ballerinen-Herrlichkeit. Ein Meisterstück der Polakov´a´ ist auch die Rücknahme aller Emotionen im Schluss-Akt, wenn sie an der Seite ihres Ehemanns, des Grandseigneurs Gremin (Alexis Forabosco) elegant und hoheitsvoll agiert, aber innerlich gar nicht mehr beteiligt scheint. Im letzten Pas-de-deux mit Onegin droht sie zwar - auch das psychologisch sensibel umgesetzt – kurz die Contenance zu verlieren, erteilt dem nun in höchster Ekstase Werbenden dann aber eine kalte Abfuhr. In solcher Vielschichtigkeit erzählen Tänzer diese Gesichte wahrlich nicht alle Tage. Alice Firenze dazu als kecke Olga, die, wie ihr erstes Solo beweist, ihre melancholische Seiten ebenso zu zelebrieren versteht wie ihre Lebenslust.
Verehrer Lenski hat es neben einer solchen Vollblutfrau nicht leicht, das erweist sich, sobald Masyu Kimoto sich um adäquate Leichtigkeit und Eloquenz bemüht. Hie und da landet er nach Höhenflügen etwas unsanft . . .