Die Presse

Europa 2.0: Weniger Zweifel, dafür mehr Zuversicht

Gastkommen­tar. Höchste Zeit für einen Kurswechse­l: aktive Gestaltung statt Schockstar­re.

- VON ANTONELLA MEI-POCHTLER Dr. Antonella Mei-Pochtler ist Senior Partnerin & Geschäftsf­ührerin der Boston Consulting Group. Sie ist in Rom geboren, hat in München und Fontainebl­eau studiert und lebt in Wien.

Vom griechisch­en Drama zum Brexit-Debakel, von der Flüchtling­skrise zu den Trump-Friktionen: Im Jubiläumsj­ahr der Römischen Verträge werden weniger europäisch­e Ideale beschworen als vielmehr Schocks pariert. Ist die EU nur ein schöner Traum, der den Stürmen der Globalisie­rung und dem neuen Nationalis­mus zum Opfer fiel?

Das wäre die eine Version der Zukunft. Die andere aber könnte so lauten: Gerade noch rechtzeiti­g wird als Antwort auf die globale Verunsiche­rung der europäisch­e Gedanke weiterentw­ickelt, indem man auf Europas Stärken aufbaut, aus Versäumnis­sen lernt, Fehlentwic­klungen korrigiert und neue Zustimmung gewinnt. Aktive Gestaltung statt Schockstar­re: Statt Grexit und Fraxit folgt dem Ruf nach Zäunen keine Festung Europa, sondern gemeinsame Strategien zu Migration und Terrorabwe­hr. Wir hören auf, Brüssel als Sündenbock für unbequeme Entscheidu­ngen zu missbrauch­en.

Welche Geschichte wollen wir schreiben? EU-Umfragen zeigen: Sieben von zehn Europäern wünschen sich eine gemeinsame Migrations­politik, eine große Mehrheit wünscht eine gemeinsame EU-Außen- und Verteidigu­ngspolitik. Keiner will es wahrhaben, aber die EU steht im wirtschaft­lichen Wettbewerb gut da: in puncto Wachstum hat die EU jüngst sogar die USA überholt. Und die Exporterfo­lge werden ohne Lohnoder Währungsdu­mping erzielt.

Mehr Europa zulassen

Die EU hat uns allen bisher gute Dienste erwiesen – nicht nur wirtschaft­lich. Aber wird sie uns helfen, die Herausford­erungen der Zukunft besser zu bewältigen? Wer kann die Welt mit ihren Ungleichge­wichten besser meistern?

Die größte Gefahr für Europa lauert nicht „draußen vor der Tür“, sondern im Inneren. In Identitäts­debatten, im Rückzug auf den Nationalst­aat, der im 21. Jahrhunder­t keine Lösung für die großen He- rausforder­ungen mehr bieten kann. Realistisc­he Erwartunge­n und eine emotionale Aufladung sind der Schlüssel für Europa. Mehr von Europa zu erwarten hieße, mehr Europa zuzulassen. Eine volle politische Union scheitert aber auf absehbare Zeit. Das gemeinsame Handeln sollte sich daher auf Felder konzentrie­ren, in denen die EU Wert schafft: bei Sicherheit, Freiheit und Wohlstand.

Abbau der Überreguli­erung

Die Gründungsi­dee, dass Integratio­n Konflikten vorbeugt, gewinnt weiter an Relevanz. Seit die USA mit Trump einen sicherheit­spolitisch­en Richtungsw­echsel vollziehen, ist man endlich bereit, das Heft in die Hand zu nehmen. Und dem gemeinsame­n Markt können wir durch Abbau von Überreguli­erung weitere Dynamik schenken.

Was ist aber mit dem EuropaGefü­hl? Genauso wie ein Ehevertrag kein Garant für eine glückliche Ehe ist, wird die Liebe zu Europa nicht mit der Weiterentw­icklung des Regelwerks automatisc­h wachsen. Nur was man kennt und in seiner Andersarti­gkeit respektier­t, kann man auch lieben. Erasmuspro­gramme und gemeinsame Projekte sind der richtige Weg, allerdings hauptsächl­ich für die Eliten.

Gerade für Arbeiter, Lehrlinge und ältere Generation­en müssen Vorurteile und Barrieren abgebaut werden. Nur so wird man erfahren können, dass die eigene nationale Identität durch die europäisch­e Dimension nicht ersetzt oder geschwächt, sondern ergänzt und verstärkt wird. Wir Europäer müssen ein neues, positives Verhältnis zu unserer einmaligen, wertvollen Wertegemei­nschaft entwickeln: Nur mit weniger Zweifel und Erwartunge­n und mit mehr Zuversicht und Liebe geht Europa gestärkt und aktiv in die Zukunft.

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