„Wer die Stadt treffen will, muss den BVB treffen“
Interview. Extremismusforscher und BVB-Fan Borstel über Dortmunds Probleme mit Linken, Rechten und Salafisten.
Die Presse: Herr Professor, unabhängig davon, wer hinter dem Anschlag steckt, hat Dortmund ein Problem? Täuscht der Eindruck, oder ist die Stadt ein Biotop für Extremismus von links, rechts und Salafisten? Dierk Borstel: Es stimmt, dass es in Dortmund eine überaus agile rechtsextreme Szene gibt, die allerdings seit Jahren stagniert. Der gelingt es aber immer wieder, mit einem Minimum an Einsatz ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit zu erzielen. Im Bereich des Salafismus sehen wir eine starke Radikalisierung, wie übrigens in den letzten zwei, drei Jahren auch der linken Szene. Aber das ist noch ein blinder Fleck.
Es scheint, als würden sich diese Strömungen gegenseitig hochschaukeln. Ja, es gibt Auseinandersetzungen, im Rahmen der jährlichen Nazi-Demonstrationen in Dortmund zum Beispiel. Militante Antifaschisten rufen dann zum symbolhaften Kampf nach Dortmund. Bei diesen Gegendemonstrationen wurden von den Linken auch Steine und chemische Substanzen gegen Polizisten eingesetzt.
Warum Dortmund? Die sozialen Probleme sind hier größer als anderswo in Deutschland. Es gibt hier ganze Stadtteile mit einer massiven Desintegration und noch immer eine weit, weit überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit. Wir haben soziale Brennpunkte, es geht auch um Armutsmigration und Kriminalität, wie die Diskussion um No-Go-Areas zeigt.
Gibt es diese No-Go-Areas? Nein. Es gibt keinen Bereich in der Stadt, in den sich die Polizei nicht in Mannschaftsstärke wagen würde. Aber wir haben einige Angstzonen, in die viele Menschen nur ungern hingehen und in denen sich teilweise kriminelle Milieus stark ausbreiten.
Woran liegen die sozialen Verwerfungen? Die Stadt hatte ärgste Strukturprobleme: Einst gab es den Dreiklang Stahl, Kohle, Bier – die Brautradition. Alle drei Bereiche sind mit wenigen Ausnahmen verschwunden. Die Stadt musste sich neu erfinden und einfache Arbeiter mussten massive Opfer bringen.
Das klingt nach enormem sozialen Sprengstoff? Ja, der BVB hat diesen Sprengstoff ein Stück weit entschärft. Wenn der arbeitslose Vater nach Hause kam und mit seinem pubertierenden Sohn nicht mehr reden konnte, aber der BVB 2:1 im Revierderby gegen Schalke gewonnen hatte: Dann war es wieder gut. Soll heißen: Auch wenn alles andere doof war, auf den BVB waren wir stolz. Es kursierten zwei Schreiben. In dem einen reklamieren Islamisten, im anderen Antifaschisten den Anschlag für sich. Was halten Sie davon? Ich weiß nur: Wenn man die Stadt treffen will, also die Politik, die Gesellschaft, die Form, wie wir hier leben, dann muss man den BVB treffen. Trotz aller sozialen Schwierigkeiten steht dieser Verein für den Zusammenhalt in der Stadt. Er hat eine andere Bedeutung als andere Klubs. Vor einem Spiel sind die Straßen wie leergefegt, jeder läuft im schwarz-gelben Trikot herum. Und als „Kloppi“(Jürgen Klopp) als Trainer gegangen ist, waren hier die Fahnen auf Halbmast. Mit dem BVB trifft man die Stadt ins Mark.
Sie haben die linke Szene angesprochen, die ein blinder Fleck sei. Warum? Es gibt eine gut strukturierte, in sich aber durchaus zerstrittene linksextremistische Szene in Dortmund, von der ein Teil militant ist. In diesem linken Milieu gibt es viele Graubereiche. Von dem Problem sind auch zivilgesellschaftliche Organisationen bis hin zu SPD und Gewerkschaften betroffen.
Auffallend ist auch der massive Anstieg der Zahl der Salafisten in Ihrem Bundesland, Nordrhein-Westfalen, von 500 auf 2500 innerhalb von vier Jahren. Das kann auch daran liegen, dass man nun genauer hinsieht. Aber ja, es gibt ein Problem im Bereich Salafismus. Der Berliner Attentäter Anis Amri war auch in der Dortmunder Szene unterwegs. Das betrifft vor allem die Nordstadt Dortmunds, wo es eine starke islamistische Szene gibt. Das wurde aber zu spät thematisiert.
Dortmund und der BVB haben auch ein rechtes Problem. Die Hooligan-Gruppe „0231 Riot“zum Beispiel. Es gab jetzt zwar Stadionverbote, aber erst nach Angriffen auf Gästefans, darunter Familien. Hat der Verein zu lange weggesehen? Alle Probleme dieser Stadt finden sich im Stadion wieder. Der BVB hat aber sehr lange das Thema Rechtsextremismus verschlafen, zuletzt jedoch viel gemacht. Aber es stimmt auch, dass wir ein Ultras-Problem haben. Dass die Ultras hinter dem Anschlag stecken könnten, schließe ich aber aus. Für die Ultras ist die Mannschaft ein Heiligtum.