Die Presse

„Parsifal“: Europas letztes Abendmahl?

Zum Gründonner­stag. Was kann die christlich­e Eucharisti­efeier heute bedeuten? Was heißt „Erlösung dem Erlöser“? Wenn eine Inszenieru­ng von Wagners „Bühnenweih­festspiel“uns darüber nachdenken lässt, hat sie ihren Sinn.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Am heutigen Gründonner­stag und am Ostersonnt­ag stehen Reprisen der neuen „Parsifal“-Inszenieru­ng auf dem Staatsoper­n-Programm. Der Livestream der heutigen Aufführung ist auch am spielfreie­n Karfreitag abrufbar. Dass über die Neuprodukt­ion intensiv diskutiert wurde, liegt sozusagen in der Natur der Sache. Die „Parsifal“-Krise beginnt ja bereits mit dem an dieser Stelle jüngst verhandelt­en Treuebruch der Wagner-Gemeinde. Deren Herr und Meister wollte sein „Bühnenweih­festspiel“einem nur diesem Zweck geweihten Tempel zur Aufführung vorbehalte­n.

Das Bayreuther Festspielh­aus blieb denn auch 30 Jahre lang – bis zum Ablauf der gesetzlich­en Schutzfris­t – die Heimstätte des Werks. Mit einer Ausnahme: Die New Yorker Metropolit­an Opera gab „Parsifal“1903. Ironischer­weise am Weihnachts­abend, obwohl der dritte Aufzug ja am Karfreitag spielt – womit die „Frevler“in New York einen kühnen Bogen von der Geburtszur Todesstund­e Christi gespannt hätten. Als wollten sie eines der vielen großen inhaltlich­en Rätsel von Wagners Schöpfung symbolisch nutzen: „Zum Raum wird hier die Zeit“, sagt Ritter Gurnemanz zum „reinen Toren“Parsifal, der nicht versteht, was rund um ihn vorgeht.

Den Verwandlun­gen auf der Spur

Diese viel zitierte beziehungs­volle Sentenz, um Anekdotisc­hes nicht außer Acht zu lassen, paraphrasi­erte – unabsichtl­ich – auch jener Besucher der ersten amerikanis­chen Vorstellun­g, der mit Bezug auf die Länge des Dramas die „Met“nach fünfeinhal­b Stunden mit den Worten verlassen haben soll: „Ist Roosevelt noch Präsident?“

Die Frage ist ja eher zu stellen, was während der etwas mehr als vier Stunden Musik und der dazugehöri­gen Handlung in diesem „Zeit-Raum“mit dem Publikum geschieht. Inwiefern es bereit ist, den Verwandlun­gen nachzuspür­en, die in den handelnden Personen auf der Bühne vor sich gehen; innerlich und – so die Regie erlaubt – auch äußerlich sichtbar.

Das Problem jeder neuen „Parsifal“-Inszenieru­ng sind die Prozesse, von denen hier die Rede ist, in ihrer Symbolkraf­t und tieferen Bedeutung auf dem Theater erfahrbar zu machen – oder besser: Kann Opernregie die Fra- gen, die dieses Stück an uns stellt, dringlich sichtbar machen? In diesem Sinn sind – anders als etwa im Falle von kolportage­artigen Werken vom Schlage einer „Traviata“, einer „Tosca“– jene Produktion­en die besten, die für heftige Diskussion­en darüber sorgen, was Wagner gemeint haben könnte. Stirbt Violetta nicht an Schwindsuc­ht, stürzt sich Tosca nicht von der Engelsburg, sind die jeweiligen Inszenieru­ngen einfach falsch. Verhandeln wir nach „Parsifal“über die Sinnhaftig­keit eines Reliquienk­ults in unserer Zeit, fragen wir gar nach der aktuellen Bedeutung einer Eucharisti­efeier, dann sind wir immerhin auf den Spuren jener Gedankenwe­lt, die Wagner

einst dazu führte, seinen „Parsifal“zum „Weihespiel“, zum besonderen – jedenfalls aus einem Theater-Repertoire­betrieb herauszuhe­benden – Ereignis zu erklären.

Abendland und Eucharisti­e

Sobald der zentrale Moment der christlich­en Messfeier zum Bühnenspek­takel wird, muss der Bühnenraum tatsächlic­h zur Zeitachse werden, an der die gewaltige Integratio­nskraft zu ermessen wäre, die diese Liturgie für die Geschichte des Abendlande­s bedeutet hat. Das hätte vielleicht gerade für eine Generation Bedeutung, deren Väter die vollkommen­e Säkularisi­erung als letztes Ziel, als Erfüllung der abendländi­schen Kultur gepredigt hatten. Diese Generation erlebt soeben, wie leicht das zivilisato­rische Moment der vollkommen­en Rationalis­ierung des Lebens, die sich doch dauerhafte­r als Erz erweisen hätte sollen, von einem (vorgeblich?) religiösem Fanatismus zumindest unterminie­rt, wo nicht gänzlich zu Fall gebracht zu werden droht.

Die kardinalen Augenblick­e in Wagners „Parsifal“sind wohl jene, in denen Ur-Erfahrunge­n (auch, aber nicht nur solche religiöser Natur) wie ein Blitzschla­g für Sekundenbr­uchteil Blicke in seelische Tiefenregi­onen gewähren. Der „Blick“des Heilands, der Kundry trifft, nachdem sie sein Leiden verlacht hat – eines der stärksten, wenn nicht das stärkste Sinnbild menschlich­er Schuld, derer die europäisch­e Kunst fähig war. „Von Welt zu Welt“irrt die dieserart „erbschuldi­g“Gewordene, „ihm wieder zu begegnen“.

Der „Kuss“auch, der Parsifal „welthellsi­chtig“macht – und die Umarmung, die er Kundry danach nicht gewähren will, weil er im Moment der „Welthellsi­chtigkeit“erkennt, dass eben in dem Verspreche­n, in der „Umarmung Gottheit zu erlangen“, das existenzie­lle Missverstä­ndnis liegt.

Das Mitleid, das Wagner als das zentrale Gebot bezeichnet hat, gilt ja in diesem Augenblick nicht den Leiden des Gralskönig­s, die Parsifal ratlos im ersten Aufzug miterlebt. Wolfram von Eschenbach­s Parzival hat angesichts des leidenden Gralskönig Amfortas nicht „gefragetˆ sˆıner not“.ˆ

Wagners Parsifal erkennt nun aber den wahren Kern dieser ,,Not“: Es geht nicht um Amfortas, den Leidenden, sondern um Amfortas, der schuldig wurde und Leid bringt! Es ist der Gral, das Blut Christi in der Abendmahls­schale, das aus „schuldbefl­eckten Händen“befreit werden muss.

Parsifal als Religionsg­ründer?

„Erlösung dem Erlöser“, die Schlusssen­tenz des Weihefests­piels, erklärt sich nur aus diesem Moment: Parsifal muss als neuer Gralskönig zum Begründer einer neuen Religion werden, die auf Basis der Tradition neue Spirituali­tät zu spenden imstande ist. Das könnte selbst Verfechter­n einer vollständi­gen Säkularisi­erung angesichts der kulturelle­n Herausford­erungen unseres Äons wie ein Menetekel erscheinen.

 ?? [ EPA/Rauh] ?? Der Gral muss aus „schuldbefl­eckten Händen“befreit werden: „Parsifal“, Bayreuth 2000, in der Inszenieru­ng Wolfgang Wagners.
[ EPA/Rauh] Der Gral muss aus „schuldbefl­eckten Händen“befreit werden: „Parsifal“, Bayreuth 2000, in der Inszenieru­ng Wolfgang Wagners.

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