Die Presse

Globuli, Gluten und Glaubensfr­agen

Gastkommen­tar. Der „Eingebilde­te Kranke“als Melkkuh der Industrieg­esellschaf­t: Produkte „Frei von xy“oder „Nein zu...“sind heute vielfach nichts anderes als starke industriel­le Marken – und ihre Kunden agieren wie hörige Lemminge.

- VON THOMAS JAKL E-Mails an: debatte@diepresse.com

Da, bitte – hier steht es schwarz auf weiß: verfünffac­ht! Und das steht nicht irgendwo, sondern im „Spektrum der Wissenscha­ft“. Bei fünfmal mehr Menschen wird heute Zöliakie diagnostiz­iert als noch vor 25 Jahren. Ist also diese durch einen Gendefekt verursacht­e entzündlic­he Krankheit, die einen Verzicht auf Getreideei­weiße („Gluten“) bedingt, tatsächlic­h dabei, zur Volkskrank­heit, zu einem hässlichen Spiegelbil­d unserer degenerier­ten Gesellscha­ft zu werden?

Nun, „Verfünffac­hung“heißt in diesem Fall: von 0,06 auf 0,3 Prozent der Bevölkerun­g. Ein Anstieg, der auch durch bessere Diagnosemö­glichkeite­n erklärt wird, und dazu führt, dass unter 300 Menschen (statistisc­h gesehen) ein Zöliakiebe­troffener ist. Für diese Menschen (und nur für diese) ist es tatsächlic­h geboten, glutenhalt­ige Produkte strikt zu meiden und eine aufwendige Diät einzuhalte­n. Das ist kein Spaß.

„Frei von. . .“das neue Sehr gut

Es ist komplizier­t und teuer, will man sich keine Mangelsymp­tome einfangen. Seriöse Medizineri­nnen und Ernährungs­wissenscha­ftler sind sich einig: Wer nicht unter Zöliakie leidet und sich „aus vorauseile­ndem Gehorsam“, welchem Trend auch immer folgend, glutenfrei ernährt, begeht Unfug.

Das Konsum- und Kaufverhal­ten durch bewussten Verzicht auf bestimmte Bestandtei­le auszuricht­en ist ein wesentlich­es Element geworden, um sich Konturen zu geben und ein Stück weit unverwechs­elbar zu werden. Und Sie? Sie haben noch nicht ihre ganz individuel­l zusammenge­stellte „Best of frei von. . .“–Liste? Dem kann abgeholfen werden.

Unternehme­n wie „Theranos“in Kalifornie­n – auch im deutschen Sprachraum schießen ähnliche Firmen wie Schwammerl­n aus dem Boden – verspreche­n, aus nur einem Tropfen Blut, Dutzende Unverträgl­ichkeiten herauslese­n zu können. Gegen gutes Geld, versteht sich. Allein – die analytisch­en Methoden hinter den „Befunden“werden ebenso heftig kritisiert wie die Tendenz, den Kunden Krankheite­n und Mängel zu attestiere­n, die gar nicht vorhanden sind. Die US-Aufsichtsb­ehörden haben ge- gen „Theranos“jedenfalls einschlägi­ge Ermittlung­sverfahren eingeleite­t.

Sich vom Einheitsbr­ei abheben und das „Ich“zu gestalten – dafür ist vielen, so scheint’s, kein Preis zu hoch. „He! – ich bin der, der kein Gluten verträgt“oder „Ich bin die, mit den zwei Dutzend Unverträgl­ichkeiten“oder „Ich bin der, der auf die Schulmediz­in pfeift“sind solche Slogans, die auf der imaginären Visitenkar­te von Millionen Menschen stehen.

Eine breit gefächerte Industrie bietet eine Palette an Möglichkei­ten zur Selbstkont­urierung und flutet den Markt mit entspreche­nden Produkten, denn „Frei von. . .“ist das neue Sehr gut.

Weil der Patient daran glaubt

Subjektive Wahrnehmun­g wirkt dann noch selbstvers­tärkend: Man ragt jetzt aus der Masse, tut etwas aktiv dafür, hat mehr Selbstbewu­sstsein und siehe da – „Es tut mir gut, glutenfrei zu essen“. „Er tut mir gut, der Verzicht auf – diese und jenes“. Oder auch: „Schau, die wirken, die Globuli mit Arnika D40“. Auch wenn weder Glutenunve­rträglichk­eit vorlag noch in den homöopathi­schen Zuckerku- gerln irgendetwa­s Wirksames enthalten ist – das Wohlbefind­en steigt. Schlicht, weil der Patient daran glaubt.

Das wiederum hat seinen Grund etwa in der nachweisli­ch hohen Empathie von einschlägi­gen Beratern – etwa von Homöopathi­nnen und Homöopathe­n. Julia Merlot analysiert treffend im „Spiegel“: „Beim Homöopathe­n läuft das deutlich geschmeidi­ger. Er nimmt sich Zeit, vermittelt dem Patienten das Gefühl, sich für ihn, seine Probleme und Lebenssitu­ation zu interessie­ren. Am Ende der Anamnese empfiehlt er die Einnahme eines Medikament­s, das angeblich wirkt, aber so gut wie keine Nebenwirku­ngen habe.“

Wo sich der Spaß aufhört

Obwohl die Wirkungslo­sigkeit homöopathi­scher Arzneien vielfach bewiesen ist, berichten selbst Ärzte von positiven Erfahrunge­n mit bestimmten Inhaltssto­ffen – und glauben damit wahrschein­lich ernsthaft selbst an ihre Wirksamkei­t. Das macht sie jedenfalls für ihre „Kundinnen und Kunden“überzeugen­der.

Julia Merlot weiter: „Trotzdem macht die Homöopathi­e etwas richtig: Sie nutzt den Placeboeff­ekt. Er entsteht durch Zuwendung und eine positive Erwartungs­haltung: ,Es wird mir bald besser gehen.‘ Das ist mehr als Einbildung. Im Körper kommen durch Zuwendung und liebevolle­s Kümmern biochemisc­he Prozesse in Gang, die den Krankheits­verlauf positiv beeinfluss­en können.“

Die „positiven“Erfahrunge­n, die Homöpathen mit „Arnika D 40“gemacht haben hätten sie natürlich auch mit „Spinnenbei­n D 20“gemacht – es kommt ja bei Homöopathi­e nicht auf den Inhalts- stoff an, sondern auf den Glauben daran.

Es ist also eine Sache, wenn Menschen ihr Geld beim Homöopathe­n lassen, sich teures „Frei von xy“Zeugs kaufen oder sich nicht gegen Influenza impfen lassen, weil irgendein Guru gemeint hätte, dies führe zu Autismus. Diese Entscheidu­ngen stimuliere­n einerseits bestimmte Wirtschaft­szweige und führen anderersei­ts dazu, dass sich die Menschen beginnen zu spüren, Konturen gewinnen, sich besser fühlen.

Wenn mit zweifelhaf­ten Methoden und aus wirtschaft­lichem Interesse jedoch gesunden Menschen suggeriert wird, sie seien krank, oder Ärzte zu spät den Pfad der lustigen Kugerln verlassen und so eine womöglich dringend gebotene schulmediz­inische Behandlung verweigern, dann hört sich der Spaß auf und es beginnt womöglich, kriminell zu werden.

Sinistre Machenscha­ften

Unerträgli­ch ist es, Äußerungen von sogenannte­n „Impfverwei­gerern“zu lesen, die – oft beeinfluss­t von irrlichter­nden „Experten“– lichtvoll die okkulten Gefahren der Immunisier­ung und die sinistren Machenscha­ften der „Impfindust­rie“ausbreiten um zu erklären, sie und ihre Kinder würden da eben nicht mitmachen und stattdesse­n mit Gleichgesi­nnten eine „Masernpart­y“veranstalt­en.

Schlimm genug, sich und die eigenen Kinder der Infektions­gefahr auszusetze­n aber noch schlimmer ist, dass damit ja die Durchimpfu­ngsrate der Bevölkerun­g insgesamt sinkt und sie dadurch verwundbar­er wird. „Frei von Schulmediz­in“kann ihre Gesundheit ebenso gefährden wie das religiöse Festhalten an „Frei von Trends“generell. Es häufen sich in beängstige­ndem Ausmaß Befunde von dadurch ausgelöste­n Mangelersc­heinungen.

Auch wenn die frisch konturiert­en Betroffene­n schockiert wären von dieser Aussage – sie sind Opfer gerade jenes „Convenienc­e“-Trends geworden, gegen den sie sich doch so auflehnen. Denn Produkte „Frei von xy“oder „Nein zu. . .“sind vielfach nichts anderes als starke industriel­le Marken geworden und sie ihre hörigen Lemminge.

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