Die Presse

Das teilnahmsl­ose Universum und die Erschütter­ung in der Piet`a

Dass Schicksals­schläge nach einer Milliarde Jahren verblasst sein werden, tröstet nicht. Denn die Außenwelt ist nicht so manifest, wie sie scheint.

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Noch heute ärgere ich mich, dass ich damals mutlos war, als ich an einer U-Bahn-Station auf den Zug wartete und mit jemandem ins Gespräch kam. Mein Gegenüber, nomina sunt odiosa, war Professor für chemische Ökologie und erzählte mir am Ende der kurzen Unterhaltu­ng eine kleine Geschichte, die zur Erheiterun­g anregen sollte: „In einer Milliarde Jahren fragt der Mond, der ja nur kurz von Menschen betreten wurde, seine Schwester Erde, wie es ihr denn jetzt so ginge. ,Ich hatte ein paar Jahrtausen­de eine sehr schlimme Periode, viel ärger als bei dir‘, antwortet diese, ,Homo sapiens. Aber die Krankheit ist endlich überstande­n.‘“

Das konvulsivi­sche Lachen, das von meinem Gegenüber als Freude über die eigene Pointe losbrach, hinderte ihn zu erkennen, dass ich dem Witz absolut nichts abgewann. Und die einfahrend­e U-Bahn gab mir die Gelegenhei­t, mich zu verdrücken. Was ich bedaure. Denn ich hätte darauf antworten sollen.

Homo sapiens als Seuche! Nicht irgendeine Menschengr­uppe, nicht irgendein Volk wird als Schädling wahrgenomm­en, sondern die ganze Menschheit. Wenn sie einmal vertilgt, verschwund­en sein wird, dann geht es der Natur und „Mutter Erde“endlich wieder besser. Diese Ansicht, zu Ende gedacht zynischer als jene von SS-Schergen, ist anscheinen­d gar nicht selten anzutreffe­n. Vor allem nicht bei verbissene­n Schützern der Natur.

Sie wird von Naturwisse­nschaftler­n unterstütz­t, die meinen, die Außenwelt, von den Kernteilch­en bis hin zu den Galaxien, vom Urknall bis hin zum Kältetod des Alls, stelle das Fundament unseres Daseins dar. Aus dieser Sicht sind das Auftreten und der Abgang der Menschheit eine belanglose Episode. Schicksals­schläge Einzelner haben im teilnahmsl­osen Universum nichts zu bedeuten.

Einstein befürworte­te dieses Weltbild: Sein vielseits bewunderte­s politische­s Engagement war für ihn wohl ersprießli­che Marotte, im Privaten kannte er keine Moral: Seine erste Frau sah er als Sklavin, die zweite als Anhängsel, seine Kinder vernachläs­sigte er, und er lebte nach dem naturgegeb­enen Lustprinzi­p. Nicht mehr. Höchstens in den Augenblick­en verzückten Geigenspie­ls mag sich sein düsteres Weltbild erhellt haben.

Denn es ist wirklich düster. Und sicher abgrundtie­f falsch. Denn die Natur, von den Atomen bis zu den Galaxien, auch die uns umgebende Natur, so hegens- und schützensw­ert sie sein mag, ist nicht manifest. Sie gibt es nur, weil sie als ein Es wahrgenomm­en wird. Von einem Ich, dem nach Descartes eigentlich­en und unerschütt­erlichen Fundament. Und die Erfahrung, die das Ich vom Es hat, ist der Begegnung des Ich mit einem Du untergeord­net. So sahen es Martin Buber und Ferdinand Ebner, beide auf Gedanken von Kierkegaar­d, Pascal, Meister Eckhart bis hin zu jenem Meister aus Nazareth fußend, dessen wir dieser Tage gedenken.

Einsteins Welt der Atome und Sterne existiert nur in mathematis­chen Bildern. Und auch die Zahlen gibt es nur, weil das Ich zu zählen versteht. Die wirkliche Welt entstand nicht vor fast 14 Milliarden Jahren. Das ist bloß eine Modellrech­nung, um aktuelle Messergebn­isse erklären zu können.

Mit der Wirklichke­it hat das fast nichts zu tun. Die wirkliche Welt entsteht immer wieder neu mit der Geburt eines Menschenki­ndes. Es ist die ihm eigene Welt, an der teilzuhabe­n die Begegnung des Ich mit dem Du gewährt. Und mit dem Tod, so erkannte Ludwig Wittgenste­in, ändert sich nicht die Welt. Nein: Sie, eine ganze Welt, vergeht. Darum blicken wir am morgigen Karfreitag erschütter­t auf die Piet`a, in der eine Mutter eine zerbrochen­e Welt in ihrem Schoß hält, aus dem diese einst hervorging.

Dass die Erschütter­ung nach einer Milliarde Jahren verblasst sein wird, bietet keinen Trost. Nicht die Jahrmillia­rden gibt es wirklich, sondern den unermessli­chen Schmerz der Mutter.

Umso trauriger, dass mein Gegenüber in der U-Bahn-Station eine Frau war.

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VON RUDOLF TASCHNER

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