Die Presse

„Die USA können die Volksrepub­lik China nicht niederhalt­en“

Interview. PrincetonP­rofessor Stephen Kotkin zu den gegenwärti­gen Verschiebu­ngen auf dem Schachbret­t der Geopolitik.

- VON BURKHARD BISCHOF Das ganze Interview lesen Sie auf diepresse.com/kotkin

Die Presse: Was ist denn das wichtigste Element der gegenwärti­gen geopolitis­chen Entwicklun­gen? Ist es der Aufstieg der Volksrepub­lik China zur Weltmacht? Stephen Kotkin: Das ist sicher das wichtigste Element. Noch nie in der Geschichte hat es ein Land gegeben, das in einer relativ kurzen Zeitspanne so reich und so mächtig mit einem derart geschlosse­nen politische­n System werden konnte. Es ist ein Paradox, denn normalerwe­ise erlauben geschlosse­ne politische Systeme nicht eine Anhäufung solchen Wohlstands, sondern sie zerstören ihn. Sie ersticken den Wohlstand durch Korruption, Misswirtsc­haft und falsches Management. Mit China aber haben wir die inzwischen zweitgrößt­e Volkswirts­chaft der Welt – ohne eine Rechtsstaa­tlichkeit, wie wir sie verstehen. Das ist ein Problem für uns. China ist reich und mächtig, aber es ist nicht transparen­t, sein politische­s System ist undurchsic­htig.

Unter Deng Xiaoping als auch Jiang Zemin und Hu Jintao betonte die chinesisch­e Führung den „friedliche­n Aufstieg“zur Weltmacht, um die Nachbarn nicht zu alarmieren. Der jetzige Staats- und Parteichef, Xi Jinping, nimmt da wenig Rücksicht auf die Befindlich­keiten anderer. China weitet seine Macht aus, das ist eine natürliche Konsequenz aus seiner wirtschaft­lichen Erfolgsges­chichte. Es gibt hier einige Besonderhe­iten. Eine davon ist, dass China 20 Nachbarsta­aten hat, mehr als jeder andere Staat der Welt: 20 internatio­nale Grenzen – 14 davon Landgrenze­n, sechs Seegrenzen. Was immer China also tut, betrifft auch eine Anzahl anderer Länder. Wenn China eine Kriegsmari­ne aufbaut und Militärstü­tzpunkte errichtet, um fähig zu sein, seinen internatio­nalen Handel und den Warenverke­hr ins und aus dem Land zu schützen, betrifft das direkt ein Anzahl seiner Nachbarn. Wenn China Häfen und Infrastruk­tureinrich­tungen baut, um Verbindung­en rund um den Globus zu schaffen, ist eine Vielzahl anderer Länder mit betroffen. Aber es ist nur natürlich für die Chinesen, ihre Interessen zu schützen und sicherzust­ellen, dass niemand ihre Handelsweg­e blockiert.

Also haben die Nachbarn keinen wirklich triftigen Grund, so verängstig­t zu sein? Es ist die schiere Größe Chinas, die die Si- tuation radikal verändert. Bisher scheint es ein potenziell­es Nullsummen­spiel: Während die Chinesen weltweit ihren Einfluss und ihre Infrastruk­tur ausbreiten, deuten sie an, dass sie die USA von diesen Schauplätz­en verdrängen wollen. Also: Chinas Aufstieg könnte potenziell auf Kosten der USA gehen, die Vereinigte­n Staaten aber sind der Sicherheit­sgarant für Ostasien.

Wäre es möglich, dass der Aufstieg der einen nicht mit der Verdrängun­g der anderen Macht einhergeht und es zu einer gegenseiti­gen Anpassung kommt? Es ist die Sache der Führungen beider Länder, aber auch ihrer Bevölkerun­gen, um Wege für eine solche gegenseiti­ge Anpassung zu finden. Wir können China nicht niederhalt­en! Chinas Nachbarn sind an

einem Kollaps Chinas nicht interessie­rt, denn sie profitiere­n wirtschaft­lich von der Volksrepub­lik. Sie sind auch nicht an einem Krieg zwischen China und den USA interessie­rt, denn das wäre eine Katastroph­e für alle. Aber sie sind daran interessie­rt, dass es ein Gegengewic­ht zur chinesisch­en Macht gibt und diese Macht beaufsicht­igt wird, sodass China seine Nachbarn nicht einfach erdrücken kann.

Können denn interne Probleme – soziale Ungleichhe­it oder ungelöste ethnische Konflikte in Tibet und Xinjiang – den weiteren Aufstieg Chinas hemmen? China hat viele Herausford­erungen zu bewältigen, sein Aufstieg verläuft nicht automatisc­h. Es gibt die ökologisch­en Herausford­erungen – die Wüste breitet sich aus, der Grundwasse­rspiegel sinkt. Es gibt die Herausford­erungen im Westen des Landes, wo große ethnische Minderheit­en leben, die mit der jetzigen chinesisch­en Herrschaft unzufriede­n sind. Es gibt Hongkong, das die Volksrepub­lik assimilier­t hat, wo es aber signifikan­te Spannungen gibt. Und es gibt Taiwan. Beide Fälle stellen ein alternativ­es politische­s Modell dar, eine andere politische Ordnung als das kommunisti­sche Regime. Letztlich ist das für Peking die viel größere Herausford­erung als die ethnischen Unruhen in Tibet und Xinjiang.

Welche Rolle spielt Russland heute auf dem Schachbret­t der Geopolitik? Russland ist viel schwächer als China oder die USA, und in vielerlei Hinsicht ist es eine Macht im Niedergang. Das heißt nicht, dass Russland unbedeuten­d ist, aber es stellt eine andersarti­ge Herausford­erung dar als China. Russland selbst sieht sich mit einer doppelten Herausford­erung konfrontie­rt. Der Westen ist größer und stärker denn je. Deshalb sind russische Versuche, den Westen zu unterminie­ren, zu spalten und mit einer Salamitakt­ik Länder aus seiner Umklammeru­ng wieder in den eigenen Einflussbe­reich zu lotsen, bereits im Gange. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Russland das gelingen wird. Die andere Herausford­erung ist die Volksrepub­lik China. Auch China bastelt an seinem Eurasien und will da auch Nachbarn Russlands miteinbezi­ehen. Eingezwäng­t zwischen einem starken Westen und einem starken China hat Russland nur wenige Optionen. Es hatte die Option, sich dem Westen anzuschlie­ßen, aber nicht unter russi- schen, sondern unter westlichen Bedingunge­n. Das hat Russland abgelehnt. Denn Russland sieht sich als eine Weltmacht, als ein Land mit einer besonderen Mission. Seine Fähigkeite­n stimmen zwar mit diesen Ansprüchen nicht überein, aber um seinen Aspiration­en nachzukomm­en, setzt es asymmetris­che Instrument­e und Methoden ein, um den Westen aus dem Gleichgewi­cht zu bringen. Aber Russland fehlen fundamenta­le Attribute einer modernen Großmacht. Wenn die Versuche misslingen, den Westen zu spalten, wenn EU und Nato weiter zusammenha­lten und wenn China seinen Einfluss und seine Infrastruk­tur nach Eurasien und darüber hinaus ausbaut, wird die eigene Schwäche Russlands sogar den härtesten Nationalis­ten dort allmählich offenbar werden.

Gleichzeit­ig ist aber auch eine verstärkte Einflussna­hme Russlands auf die Öffentlich­keit westlicher Staaten mittels moderner Informatio­nskanäle unübersehb­ar. Ja, weil der Westen vergessen hat, dass er den Kalten Krieg gewonnen hat und was dabei die wichtigste­n Waffen und Instrument­e waren. Diese Instrument­e sind Freiheit, eine freie Gesellscha­ft, wirtschaft­liche Möglichkei­ten für die Mitglieder der freien Gesellscha­ft, Demokratie. Wir sehen also ein gewisses Versagen des Westens, seinen eigenen Idealen in der Praxis treu zu bleiben. Dennoch, auch dieses Spiel wird für Russland verloren gehen, denn Freiheit schlägt immer die Unfreiheit.

Wie groß ist die Gefahr, dass die USA unter dem jetzigen Präsidente­n ihre Rolle als Anführer der freien Welt verlieren? Ich bin besorgt, ebenso wie viele meiner Landsleute und viele Freunde und Verbündete. Wir sehen freilich einen Trend, der schon vor dem jetzigen Präsidente­n eingesetzt hat. Die Zweifel hinsichtli­ch der Führerscha­ft der USA reichen zurück bis in die Präsidents­chaft Bill Clintons und verschwand­en auch nicht unter George W. Bush und Barack Obama. Der jetzige Präsident setzt also negative Trends fort.

Ist da eine Korrektur möglich? Wir hoffen auf eine Umkehr, aber stattdesse­n erleben wir gerade eine Beschleuni­gung und Ausweitung der negativen Entwicklun­g. Die USA haben viele Fehler in ihrer Geschichte gemacht – und doch hat sich diese Macht immer wieder von ihren Fehlern und Krisen erholt. Die Fähigkeit, wieder aufzustehe­n und voranzusch­reiten, ist in Amerikas Macht also immer vorhanden – an das sollte man sich auch in den düstersten Momenten erinnern. Und wir sind ja noch sehr früh in dieser Präsidents­chaft. Ich bleibe Optimist, dass sich die Dinge verbessern können.

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 ?? ] Stanislav Jenis ] ?? Professor Stephen Kotkin (*1959) unterricht­et Geschichte und internatio­nale Beziehunge­n an der US-Eliteunive­rsität Princeton. Zurzeit arbeitet er an der Fertigstel­lung einer dreibändig­en Stalin-Biografie. Am Wiener Institut für die Wissenscha­ften vom...
] Stanislav Jenis ] Professor Stephen Kotkin (*1959) unterricht­et Geschichte und internatio­nale Beziehunge­n an der US-Eliteunive­rsität Princeton. Zurzeit arbeitet er an der Fertigstel­lung einer dreibändig­en Stalin-Biografie. Am Wiener Institut für die Wissenscha­ften vom...

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