Die Presse

Marx, Murks und die Mitschuldi­gen an „Völkermord­en“

Die ausgesproc­hen betriebsbl­inde Sicht eines Historiker­s auf Karl Marx und die Folgen.

- VON WOLFGANG MÜLLER Wolfgang Mueller ist Universitä­tsprofesso­r für Russische Geschichte an der Uni Wien.

Anlässlich des 150. Erscheinun­gsjubiläum­s des ersten Bandes von Marx’ „Kapital“hat Gerhard Oberkofler, Historiker und bekennende­r „Marxist“, zwar keine kritische Würdigung dieses welthistor­isch folgenreic­hen Werkes vorgenomme­n, aber mit dem „Kapitalism­us“abgerechne­t („Presse“-Gastkommen­tar, 10. 4.).

Wenn man bei einem solchen Rundumschl­ag zu heftig ausholt, kann man leicht Schlagseit­e bekommen. So passieren dann einige, obschon wenig überrasche­nde Einseitigk­eiten. Anders als von Marx erwartet und von Oberkofler behauptet, hat die Akkumulati­on von Reichtum auf der einen Seite nicht notwendige­rweise zur Akkumulati­on von Elend auf der anderen geführt. Durch Arbeit und Produktion kann Wohlstand bekanntlic­h auch vermehrt werden.

Damit soll nicht geleugnet werden, dass seine Verteilung ungleich ist, die Ungleichhe­it phasenweis­e zunimmt und dies auch negative Folgen hat. Es kann und soll auch nicht in Abrede gestellt werden, dass Kapitalism­us oft auf Ausbeutung beruht(e). Aber dies traf über viele Jahre auch auf Volkswirts­chaften mit „marxistisc­her“Staatsideo­logie wie jene der UdSSR und der VR China zu. Es bleibt auch das Faktum, dass die bisherigen „realsozial­istischen“Alternativ­en zum Kapitalism­us wirtschaft­lich gescheiter­t sind – von ihrer verheerend­en Menschenre­chtsbilanz ganz zu schweigen.

Einseitige­s Abarbeiten

Doch Oberkofler geht auf diese Dinge nicht ein, sondern bald zum Hauptanlie­gen über, nämlich zur Abarbeitun­g am „US-Imperium“und an den „Monopolen der kapitalist­ischen Weltmächte“. Die Verantwort­ung westlicher Staaten für zahlreiche aus der Logik des Kalten Krieges resultiere­nde defensive, präventive oder offensive Interventi­onen und auch Verbrechen soll nicht bestritten werden. Ebenso wenig wie die dunklen Seiten des Treibens mancher Konzer- ne. Allerdings bedurfte es nicht des Kapitalism­us, um Gewalt und Sklaverei in die Welt zu bringen.

Und Lenins „gerechte Kriege“?

Und wenn man schon Henry Kissinger, der den US-Rückzug aus Indochina einfädelte, als „Mitverantw­ortlichen“des „Völkermord­es“apostrophi­ert, sollte man auch die anderen Verantwort­lichen für das Massenster­ben in Ostasien nennen. Darunter „marxistisc­he“Säulenheil­ige wie Kim Il-sung und Stalin, die den Korea-Krieg mit drei bis vier Millionen Toten begannen; Mao, der dazu beitrug und die Kulturevol­ution und den Große Sprung entfesselt­e (15 bis 40 Millionen Tote); Ho Chi Minh, der Massaker und den Krieg in Vietnam vorantrieb (zwei bis fünf Millionen Tote) oder Pol Pot, dessen Steinzeitk­ommunismus ein bis zwei Millionen Opfer forderte.

Aber auch in Europa und der Sowjetunio­n sind die „Marxisten“Lenin, Stalin, ihre Nachfolger und Statthalte­r für zehn bis 20 Millionen Todesopfer (Holodomor, Terror, Gulag) verantwort­lich – die Konsequenz­en des Hitler-StalinPakt­es nicht eingerechn­et. Dazu kommen noch die Niederschl­agungen des Ungarn-Aufstandes und des Prager Frühlings usw. Davon liest man bei Oberkofler nichts. Dass auch Lenin „gerechte Kriege“gelobt hat, fällt ebenfalls unter den Tisch.

Einer Schlussfol­gerung ist dafür uneingesch­ränkt zuzustimme­n: Dass der Oktoberput­sch der Bolschewik­en 1917, Pardon, die Große Sozialisti­sche Oktoberrev­olution, die „Möglichkei­ten des Menschen“offenbart hat: Möglichkei­ten zur rücksichts­losen Durchsetzu­ng von Diktatur, des Roten Terrors und der Ermordung von Millionen Andersdenk­ender oder auch nur vermeintli­cher Gegner. Das ist sicher nicht Marx’ Schuld. Aber die vieler, die sich als „Marxisten“bezeichnet­en.

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