Er soll die ganze Macht erhalten
Wie würde die Türkei unter dem System einer Präsidialrepublik aussehen?
Istanbul. Es ist eine historische Weichenstellung für den künftigen Weg der Türkei. Rund 58 Millionen türkische Wähler entscheiden am Sonntag über den weitreichendsten Umbau des Staates seit Jahrzehnten. Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ wirbt für die Einführung eines Präsidialsystems, das ihm selbst auf Jahre hinaus große Machtbefugnisse einräumen würde. Seine Gegner warnen vor einem Ein-Mann-System, dem Ende der Republik Atatürks und einem unaufhaltsamen Marsch in die Diktatur, sollten die Türken tatsächlich Ja zu Erdogans˘ Plänen sagen.
Laut Erdogan˘ und seiner Regierungspartei, AKP, grenzt es an ein Wunder, dass in der Türkei derzeit überhaupt etwas funktioniert: Nur im heftigen Kampf gegen das bestehende System habe seine Regierung in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ihre Vorstellungen durchsetzen und der Türkei neuen Wohlstand und neues Ansehen bescheren können, behauptet der Präsident bei seinen Wahlkampfkundgebungen vor dem Referendum. Die Einführung der Direktwahl des früher vom Parlament bestimmten Präsidenten 2007 habe zur Zersplitterung der Befugnisse an der Spitze des Staates geführt, so die AKP. Es gebe eine Konkurrenz zwischen dem Staatsoberhaupt und dem Ministerpräsidenten, der dem Kabinett vorsteht: Beide hätten starke demokratische Mandate. Dies führe zu einer „Doppelköpfigkeit“und damit zu vielen Reibungsverlusten.
Die Lösung, sagt Erdogan,˘ bestehe im Präsidialsystem. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft, die wichtigsten Befugnisse werden im Amt des Staatsoberhaupts vereinigt. Anders als bisher soll der Präsident künftig auch Mitglied und sogar Vorsitzender einer politischen Partei sein dürfen – die bisher gebotene Überparteilichkeit des Staatschefs entfällt. Der Präsident wird im neuen System für höchstens zwei jeweils fünfjährige Amtsperioden gewählt. Da Erdogans˘ derzeitige Amtszeit noch bis zum Jahr 2019 reicht, könnte der heute 63-Jährige also bis zum Jahr 2029 regieren.
Vergleiche mit anderen Ländern hinken
Staatliche Entscheidungsprozesse würden im neuen System verschlankt, das Regieren werde effizienter, was letztlich allen Bürgern zugutekomme, verspricht Erdogan.˘ Im Übrigen gebe es auch in westlichen Staaten wie in den USA oder in Frankreich starke Präsidialsysteme, ohne dass sich dort jemand Sorgen über den Zustand der Demokratie mache, lautet ein anderer Hinweis der AKP.
Allerdings zeigt ein Vergleich des Erdogan-˘Plans mit den Systemen in Washington und Paris eine Tendenz, bestimmte Teile aus diesen Konstruktionen zu übernehmen, die für die Machtkontrolle wichtigen Mechanismen aber zu ignorieren. So ist der Präsident in Frankreich zwar ähnlich mächtig wie der türkische Staatschef im neuen System, doch er muss sich die Regierungsgewalt mit dem Ministerpräsidenten teilen. Das kann hin und wieder zu schwierigen
Perioden der Cohabitation – des Zusammenlebens – führen, wenn Präsident und Regierungschef zwei verschiedenen Parteien angehören. In der Türkei soll es das nicht geben. Der Präsident ist auch Chef der Regierung und sucht sich seine Minister allein und ohne Parlament aus; den Premier gibt es nicht mehr. Die Opposition spricht deshalb von einem Ein-Mann-System.
Beim Blick auf die USA fällt im türkischen Plan das Fehlen anderer starker Gegengewichte auf. Der US-Präsident muss sich nicht nur mit den erheblichen Rechten der Bundesstaaten herumschlagen, die es in der zentralistisch organisierten Türkei nicht gibt. Er muss auch mit den Mitspracherechten des Kongresses zurechtkommen, etwa bei der Ernennung von Ministern oder Bundesrichtern. In den USA liegt das Haushaltsrecht beim Parlament. In der Türkei soll das Budget künftig vom Präsidenten ausgearbeitet werden, nicht mehr von den Volksvertretern.
Die AKP unterstreicht, im neuen System habe das Parlament mehr Befugnisse bei der Besetzung des Richterkontrollgremiums HSK. Zudem werde die Zahl der Parlamentsabgeordneten von 550 auf 600 erhöht und die Legislaturperiode der Volksvertretung von vier auf fünf Jahre verlängert, um Präsidenten- und Parlamentswahlen künftig gleichzeitig abhalten zu können. Das Mindestalter für das passive Wahlrecht wird von 25 auf 18 Jahre gesenkt.
Ob all das das Parlament stärkt, wird von Kritikern bezweifelt. Für den US-Präsidenten etwa kann die Macht des Parlaments bei der Kontrolle über die Exekutive unangenehm werden. Derzeit untersucht der Kongress beispielsweise angebliche Verbindungen zwischen dem Wahlkampfteam Donald Trumps und Russland. Unter Erdogans˘ System büßt das Parlament wichtige Befugnisse ein. Untersuchungen wie die derzeitigen Parlamentsermittlungen in den USA würde es in der Türkei nicht geben.
Auflösung des Parlaments
Befürworter des Erdogan-˘Plans betonen jedoch, das Parlament könne nach wie vor mit den entsprechenden Mehrheiten eine Amtsenthebung des Präsidenten anstreben. Umstritten ist auch das Recht des Präsidenten zur Auflösung des Parlaments. Kritiker sehen hier eine unzulässige Machterweiterung. Die AKP verweist dagegen darauf, dass der Präsident bei einer Auflösung des Parlaments und Ausrufung einer Neuwahl auch das vorzeitige Ende seiner eigenen Amtszeit einleiten würde, weil Parlament und Präsident gleichzeitig gewählt werden müssen.