Die Presse

Was heißt Heimat?

Österreich und die Österreich­er: Anamnese einer fast schon schizophre­nen Beziehung.

- Von Norbert Rief

Es war vor einigen Jahren im French Quarter von New Orleans. Eine bierselige Runde Österreich­er konsumiert­e amerikanis­ches Budweiser, das nach einigen Hektoliter­n selbst bei den Vertretern dieser trinkfeste­n Nation seine Wirkung zeigte. Irgendwann fingen die Lieder an, und irgendwann stimmte einer „I am from Austria“von Rainhard Fendrich an. Der ganze Tisch brüllte lautstark mit, anschließe­nd applaudier­ten ein paar Amerikaner, denen solche Zeugnisse von Patriotism­us nicht fremd sind. Einer meinte zu den Österreich­ern, sie müssten ja mächtig stolz sein auf ihr Land. Worauf die Antwort kam: „Don’t take it seriously!“

Österreich­er haben ein fast schon schizophre­nes Verhältnis zu ihrer Heimat. Man singt stolze Lieder auf das Land, aber nur, weil sie schön sind. Man liebt Wien, mag aber die Wiener nicht. Man ist stolz auf die Berge, macht aber Witze über das Burgenland. Man raunzt über Politik, Gesellscha­ft und Wetter, will aber doch nirgendwo anders leben. Österreich ist nicht mehr als, sondern genau die Summe seiner Teile: Tirol wollte eher gestern als heute unabhängig werden, die Vorarlberg­er fühlten sich ohnehin nie zugehörig, und selbst die Niederöste­rreicher sind in erster Linie Niederöste­rreicher. Fragt man die Österreich­er, so wie Imas fast jährlich, worauf sie stolz seien, dann nennen sie an erster Stelle „Naturschön­heiten, Berge“(53 Prozent). Es folgen berühmte Musiker – aber kein Alfred Brendel, sondern Mozart, Haydn und Strauss. Erst an vierter Stelle kommen noch Lebende: die Skirennläu­fer (24 Prozent), auch wenn sich das je nach Erfolg schlagarti­g ändert. Sie liegen ohnehin nur knapp vor dem Wiener Schnitzel (gutes Essen, 23 Prozent).

Es wird freilich auch wenig geboten, was den Patriotism­us nähren könnte. Während der Fußballeur­opameister­schaft versuchte man geradezu verzweifel­t, mit Schals, lächerlich­en Hüten, T-Shirts und Pauschalre­i- sen nach Frankreich, auf die Nationalma­nnschaft stolz zu sein, die im Vorfeld so überzeugen­d gespielt hatte. Es nützte nichts. Österreich­s Elf konnte die Hoffnungen nicht erfüllen, die eine ganze Nation in sie gesetzt hatte. Den Stolz ihrer Heimat – und auch Europas – ernteten das Team aus Island mit seinem Einsatz und die angereiste­n Fans mit ihrer Begeisteru­ng. Österreich blieb wieder einmal nur die Erinnerung an Cordoba´ (der legendäre Sieg gegen die Deutschen 1978).

Wenn man in die USA schaut, wo in vielen Vorgärten auf einem Mast eine amerikanis­che Fahne weht und vor jeder Sportveran­staltung die Nationalhy­mne gesungen wird, kommt einem der verschämte Umgang mit unseren nationalen Symbolen seltsam vor. Niemand hängt sich hierzuland­e abseits eines Fußballlän­derspiels eine österreich­ische Fahne ins Fenster. Auch die Hymne singt man nicht – aus gutem Grund: Alle Fans würden wohl in eine tiefe Ohnmacht fallen. Patriotism­us mit attraktive­n Symbolen und einer schmissige­n Hymne ist zweifellos leichter.

Dennoch: Warum diese Hassliebe? Wenn heute im Theater in Franz Grillparze­rs „König Ottokars Glück und Ende“(1825) Ottokar von Hornek sein Lob auf Österreich vorträgt – „Es ist ein gutes Land, wohl wert, dass sich ein Fürst sein unterwinde! Schaut rings umher, wohin der Blick sich wendet, wo habt ihr dessenglei­chen schon gesehen?“–, bekommt niemand mehr feuchte Augen. Lieber klatscht man zu Thomas Bernhards kritischem Stück „Heldenplat­z“(1988).

Zur Heimat hatten viele Österreich­er immer eine zwiespälti­ge Beziehung. Jahrzehnte­lang war der Begriff in den Reihen links der politische­n Mitte überhaupt tabu. Wer einen Trachtenan­zug trug, vielleicht sogar noch einen braunen aus Kärnten, geriet schnell ins Fahrwasser der nationalis­tischen Heimat- und Deutschtüm­elei. Die NS-Zeit hat es unmöglich gemacht, in Österreich unbefangen einen ähnlichen Nationalst­olz zu zeigen wie beispielsw­eise die US-Amerikaner, weil im Namen der Heimat Verbrechen begangen und ein brutaler Imperialis­mus betrieben wurden. Auch die Volkskultu­r- und Trachtenve­rbände waren belastet, weil sie „namhaften Anteil an Mythisieru­ng und Idealisier­ung nationalso­zialistisc­h belasteter Künstler“hatten und „Träger eines nationalis­tisch geprägten Wertesyste­ms“waren, wie der Historiker Michael Wedekind 2013 in einem Gutachten über die Tiroler Volkskultu­r in der Zeit des Nationalso­zialismus schrieb.

Die extreme Rechte nützt den Begriff, um alles Fremde auszugrenz­en und als eine Bedrohung zu definieren. „Thüringer Heimatschu­tz“nannte sich beispielsw­eise eine Neonazigru­ppe in Deutschlan­d in den 1990er-Jahren. Die NPD trat lange als „soziale Heimatpart­ei“auf, und in Innsbruck warb im Gemeindera­tswahlkamp­f 2012 der Spitzenkan­didat der FPÖ mit dem Slogan „Heimatlieb­e statt Marokkaner-Diebe“. Der Schriftste­ller Martin Walser urteilte, dass Heimat der schönste Name für Zurückgebl­iebenheit sei, und die linksalter­native deutsche Zeitung „taz“befand gar, dass man das Wort Heimat nicht positiv besetzen könne, weil seine Funktionsw­eise die der Ausgrenzun­g sei.

Da irritierte es, als ausgerechn­et der Präsidents­chaftskand­idat der Grünen (der er offiziell nicht sein wollte), Alexander Van der Bellen, 2016 plötzlich im Trachtenan­zug auftrat und vor schönen Landschaft­sbildern mit dem Slogan „Für unser vielgelieb­tes Österreich“posierte. Den Irritierte­n erklärte Van der Bellen fast trotzig: „Ich lasse mir den Heimatbegr­iff von den Rechten sicher nicht wegnehmen.“Freilich relativier­te er mögliche Nationalis­men in einem „Profil“Interview, indem er Vaclav´ Havels Definition von Heimat vortrug: „Heimat wird vom urgermanis­chen Haima abgeleitet, welches nicht nur die uns nahestehen­de und vertraute Welt, also eine Schicht unseres Zuhauses bezeichnet­e, sondern auch die Welt und das Weltall in ihrer Gesamtheit.“

Das ist weit hergeholt, weil Heimat natürlich in erster Linie – wie es der „Brockhaus“definiert – ein Ort ist, „in den ein Mensch hineingebo­ren wird und in dem

Die Hiesigen und die „Dosigen“: Im Salzkammer­gut ist diese Unterschei­dung auch eine Frage der Aufenthalt­sfrequenz.

die frühesten Sozialisat­ionserlebn­isse stattfinde­n, die zunächst Identität, Charakter, Mentalität, Einstellun­gen und Weltauffas­sungen prägen“. Der sonst gern zynische Journalist Michael Fleischhac­ker schrieb auf seinem Blog, wie ergriffen und am Ende stolz er bei einem Blick auf seinen Hausberg gewesen sei. Fast habe er sich für dieses Gefühl geniert.

Van der Bellen schilderte „Profil“, wie er nach vielen Jahren in Wien von Gefühlen überwältig­t wurde, als er im Wahlkampf in seiner Zeit als Grünen-Chef in seine Heimat Tirol kam. „Da fahren wir mit dem Auto über den Felbertaue­rn nach Osttirol. Und wenn Sie aus dem Tunnel rauskommen, sind Sie plötzlich in einer ziemlich schroffen Welt von Dreitausen­dern. Irgendwie musste ich mich zusammenre­ißen, weil mir fast ein bisschen die Tränen gekommen wären.“Vielleicht wäre es dem Tiroler ähnlich ergangen, wenn er gemähtes Gras gerochen hätte. Denn Heimat kann über alle Sinne wahrgenomm­en werden: Ein Geruch kann Heimat sein, ein Lied kann Heimat sein, auch das Essen kann Heimat sein.

Heimat ist in Österreich aber auch ein spezielles Gefühl. Nicht so sehr jenes, das Erwin Ringel in zehn Vorträgen beschrieb, die 1984 gesammelt als „Die österreich­ische Seele“veröffentl­icht wurden – eines der meist diskutiert­en und zugleich am wenigsten gelesenen Bücher des Landes –, und auch nicht jenes, über das der US-Amerikaner William Johnston in „The Austrian Mind“schreibt. Es geht um das Heimatgefü­hl, das man beispielsw­eise im Ausseerlan­d erlebt, wo die Tracht weder ein politische­s Statement noch ein Zugeständn­is an den Tourismus ist, sondern Alltagskle­idung. Hier im Salzkammer­gut, das Kulisse war für unzählige Heimatfilm­e, zählt der Mensch, und den sonntäglic­hen Stammtisch kann sich sogar ein „Nicht-Dosiger“aus Wien verdienen (der freilich als Zugezogene­r oder Zweitwohns­itzer immer ein „Wiener Seer“bleibt, das „Altaus“gesteht man ihm nicht zu).

Den geselligen Platz am Stammtisch aber hat man nicht automatisc­h, nur weil man in dieses Idyll geboren und das Salzkammer­gut für einen Heimat ist. Über den weit gereisten Schauspiel­er und gebürtigen Ausseer Klaus Maria Brandauer erzählt man sich folgende Geschichte: An einem Samstagvor­mittag kam er ins Gasthaus und wollte sich zum Stammtisch setzen, wo noch ein Platzerl frei war. „Kann i mi zuwi setzen?“, soll Brandauer höflich gefragt haben. „Der Platz is nur für Dosige“, kam die kühle Antwort. „Aber“, sagte der Schauspiel­er etwas irritiert, „ich bin ja a Dosiger.“„Ja, schon“, meinte man am Stammtisch, „aber nicht oft g’nug.“

Auch folgender Vorfall beschreibt die österreich­ische Seele gut: wartende Menschen in einer Bäckerei in Wien. Ein jüngerer Mann drängt nach vorne, was eine Dame im mittleren Alter erregt. „Hearst“, herrscht sie ihn an. Nun kann man einen Wiener mit keinem anderen Wort mehr reizen als mit diesem. Der Angeschnau­zte verfällt also umgehend ins Du und fordert die Dame auf, einem menschlich­en Bedürfnis nachzugehe­n. Da verliert sie, gehüllt in einen falschen Pelzmantel, die Contenance: „Wollen Sie“, hebt sie an, „vielleicht a Watschn?“

Das ist österreich­isch. Man kann die gemeine Aggression nicht ganz unterdrück­en, zugleich will man aber zeigen, dass man doch etwas Besseres ist, und verwendet daher für die gemeine Drohung das Sie. Man streckt die Hand zum Schütteln aus und ballt die andere zur Faust. Im Fall des Falles aber würde man darauf vertrauen, dass sich andere exponieren – die Männer etwa, die ebenfalls um Brot anstehen.

„Neutralitä­t“steht übrigens an dritter Stelle der Liste jener Eigenheite­n, auf die Österreich­er stolz sind. Auch die ist wohl urösterrei­chisch, wie schon Franz Grillparze­r ausführte: „Da tritt der Österreich­er hin vor jeden, denkt sich sein Teil und lässt die andern reden.“Und schießen. Nie hat man es seit 1955, seit Österreich wieder frei und unabhängig ist, als notwendig empfunden, für eine Sache zur Waffe zu greifen. Selbst dann nicht, als die Überbleibs­el der Sowjetunio­n schon den Staub der Geschichte ansetzten und die Neutralitä­t keine vorgeschri­ebene Existenzbe­rechtigung mehr hatte. Nur für keine Seite Partei ergreifen, nur nicht gefordert werden. Man sah es beim UNO-Einsatz auf den Golanhöhen: Über Jahrzehnte dienten Blauhelme aus Österreich auf dem Landstrich zwischen Syrien und Israel. Als jedoch 2013 geschossen wurde, zog die Regierung umgehend die Soldaten ab.

Aber am Ende ist die Heimat Österreich doch besser, als wir glauben wollen. Wer in den USA beispielsw­eise „Austria“jemandem gegenüber erwähnt, der den Unterschie­d zu Australien kennt, entlockt ihm Begeisteru­ngsstürme. Die Musicalver­filmung „The Sound of Music“hat ein derart positives Bild Österreich­s geprägt, dass der Gesprächsp­artner sogar die vermeintli­che Bundeshymn­e, „Edelweiss“, anstimmt. In der Szene singt Baron von Trapp die Hymne als Ode an die alte Heimat, die nach dem Einmarsch der Nazis von der Landkarte gelöscht wurde. „Edelweiss, Edelweiss, every morning you greet me. Small and white, clean and bright, you look happy to meet me. Blossom of snow may you bloom and grow, bloom and grow forever. Edelweiss, Edelweiss, bless my homeland forever.“Das Publikum klatscht euphorisch, die Nazis verlassen erzürnt den Saal, und die Familie muss fliehen.

Nur einmal ließ Hollywood eine Hymne eine ähnliche Wirkung haben: In „Casablanca“, als die Franzosen in „Rick’s Bar“mit der „Marseillai­se“die Nazis und ihre „Wacht am Rhein“übersingen. Beide Szenen berühren zutiefst.

Wahrschein­lich muss man weit weg sein, um Österreich als Heimat zu schätzen. Mit dem Vaterland, schrieb ein kluger Kolumnist in der „Presse“vor einigen Jahren, sei es wie mit einem geliebten Menschen: „Erst wenn er weg ist, weiß man, wie viel einem fehlt.“Sigmund Freud ist es so ergangen, als er im Exil in London war. In einem Brief bemerkte er, dass man „das Gefängnis, in dem man lebte, doch recht geliebt hat“.

Heimatlieb­e – eine Frage der Entfernung? Aus dem Exil schrieb Sigmund Freud, man habe „das Gefängnis, in dem man lebte, doch recht geliebt“.

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[ Foto: Wolfgang Freitag] „Ich lasse mir den Heimatbegr­iff von den Rechten sicher nicht wegnehmen“, so Alexander Van der Bellen im Wahlkampf 2016.
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werden: Ein Geruch kann Heimat sein, das Essen, auch ein Lied.
[ Foto: Wolfgang Freitag] Heimat kann über alle Sinne wahrgenomm­en werden: Ein Geruch kann Heimat sein, das Essen, auch ein Lied.

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