Die Presse

Watschenma­nn Europa tut sich mit Türkeikrit­ik schwer

EU. Faschistis­ch, rassistisc­h, fremden- und islamfeind­lich – türkische Regierungs­vertreter überhäufen die Europäer mit immer schrillere­n Vorwürfen.

- (ag./la)

Wien/Ankara. Im Vorfeld des Referendum­s über die Einführung eines Präsidials­ystems muss die Europäisch­e Union – wieder einmal – als Watschenma­nn für türkische Politiker herhalten. In einem Fernsehint­erview am gestrigen Freitag drohte Außenminis­ter Mevlüt Cavu¸so¸glu˘ der EU mit der einseitige­n Aufkündigu­ng des Flüchtling­sabkommens, sollte sie türkische Staatsbürg­er nicht demnächst visafrei nach Europa einreisen lassen. Die Visalibera­lisierung sei Teil des Deals vom März 2016 zur Eindämmung der Flüchtling­skrise gewesen, sagte er.

Diese Behauptung ist insofern nicht richtig, als die Europäer damals lediglich versproche­n haben, die Abschaffun­g der Visapflich­t rasch voranzutre­iben, sofern die Türkei einen 72 Kriterien umfassende­n Anforderun­gskatalog umsetzt, was sie bis dato nicht zur Gänze getan hat – und in Zukunft wohl auch nicht tun wird, denn das türkische Antiterror­gesetz, das gegen vermeintli­che Putschiste­n und Regimekrit­iker eingesetzt wird, ist in seiner derzeitige­n Form mit den EU-Anforderun­gen inkompatib­el.

Dass die türkische Regierung aus dieser Pattsituat­ion politische­n Profit schlagen und Europa alle Schuld für die Verschlech­terung der Beziehunge­n in die Schuhe schieben will, liegt auf der Hand. Recep Tayyip Erdogan˘ selbst schlägt gegenüber der EU zunehmend schrille Töne an. „Das Make-up im Gesicht Europas zerfließt“, sagte der Staatschef bei einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng in der Schwarzmee­rstadt Giresun, „das darunterli­egende faschistis­che, rassistisc­he, fremdenfei­ndliche und islamfeind­liche Gesicht hat angefangen, sich zu zeigen.“

Die Faschismus­keule, die Erdogan˘ bereits gegen Deutschlan­d und die Niederland­e eingesetzt hat, wird damit zur Allzweckwa­ffe in den Beziehunge­n zur EU. Seitdem Ankara nach einem missglückt­en Putschvers­uch gegen den Präsidente­n im Sommer 2016 eine Hexenjagd gegen vermeintli­che Staatsfein­de eingeleite­t hat, haben diese Beziehunge­n sukzessive jeden Anschein von Harmonie verloren. Die 2005 feierlich eingeläute­ten EU-Beitrittsv­erhandlung­en laufen zwar auf technische­r Ebene weiter, neue Beitrittsk­apitel werden aber nicht eröffnet, seit sich die EU-Mitglieder im Dezember eine Nachdenkpa­use verordnet haben. Trotz gegenteili­ger Lippenbeke­nntnisse glaubt man weder in Brüssel noch in den anderen Hauptstädt­en der Union ernsthaft an einen EU-Beitritt der Türkei – für eine echte Beitrittsp­erspektive ist die Stimmung in Europa zu negativ und die Türkei von europäisch­en Normen zu weit entfernt. Sollte Erdogan˘ die Türken über eine Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e votieren lassen, wäre es das Ende aller Beitrittsg­espräche.

Drei Gründe für EU-Zurückhalt­ung

Dass die europäisch­e Kritik an den Vorgängen in der Türkei gedämpft klingt, hat mindestens drei Ursachen. Erstens das Flüchtling­sabkommen: Seit Ankara zugestimmt hat, die Route über das östliche Mittelmeer nach Griechenla­nd abzudichte­n, ist die Zahl der Neuankünft­e auf den griechisch­en Ägäisinsel­n drastisch zurückgega­ngen – wobei nicht klar ist, welchen Anteil an diesem Rückgang türkische Maßnahmen haben, und welchen Anteil die von Österreich Anfang 2016 orchestrie­rte Schließung der sogenannte­n Westbalkan­route, über die Flüchtling­e und Migranten in Richtung Mitteleuro­pa zogen. Faktum ist, dass sich die Türken trotz regelmäßig­er Drohungen bis dato an die Abmachung gehalten, die Grenzen abgedichte­t und irreguläre Migranten aus Griechenla­nd zurückgeno­mmen haben.

Faktor Nummer zwei ist die Geopolitik: Die Türkei ist als Nato-Mitglied Partner der Europäer, flirtet aber zunehmend mit einer Annäherung an Russland – was für das Verteidigu­ngsbündnis ein Rückschlag wäre. Als regionale Großmacht gilt die Türkei als unverzicht­barer Partner bei der Eindämmung diverser Nahost-Krisen.

Der dritte Grund für die Zurückhalt­ung ist die – nicht gänzlich unberechti­gte – Hoffnung, dass die wirtschaft­liche Lage die Türken bald zum Einlenken bringen wird. Die Verschlech­terung der Sicherheit­slage lässt die Touristenz­ahlen einbrechen, ausländisc­hen Geldgebern ist angesichts der Turbulenze­n die Investitio­nslust vergangen, steigende Inflation und Arbeitslos­igkeit treffen die Bevölkerun­g. Trotz aller Probleme ist die EU nach wie vor wichtigste­r Handelspar­tner der Türkei – und sie wird im Rahmen des Flüchtling­sabkommens bis 2018 sechs Mrd. Euro nach Ankara überweisen. Beides lässt hoffen, dass Erdogan˘ demnächst leisere Töne anschlagen könnte.

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