Die Presse

Geboren 1963 in Salzburg. Redakteuri­n und Moderatori­n bei Ö1 sowie Übersetzer­in. 2014 bei Kremayr & Scheriau: „Zu Hause in Fukushima. Das Leben danach: Porträts“.

„Inside Fukushima“: Tomohiko Suzukis brisante Reportage aus dem Inneren der Katastroph­e.

- JUDITH BRANDNER

Manchmal dauert es lang, bis wichtige Bücher aus dem Ausland den Weg zu uns finden. Bei der Reportage des investigat­iven Journalist­en Tomohiko Suzuki aus dem AKW Fukushima waren es gut fünf Jahre. Dass nun eine Übersetzun­g vorliegt, ist den engagierte­n Herausgebe­rn, der Textinitia­tive Fukushima und dem Hamburger Alternativ­literaturf­estival Lesen ohne Atomstrom sowie den Übersetzer­n Felix Jawinski, Heike Patzschke und Steffi Richter zu verdanken. Bei Erscheinen 2011 wurde „Inside Fukushima“ein Bestseller, zu einer Zeit, als die Menschen begierig auf glaubwürdi­ge Informatio­nen aus dem havarierte­n AKW waren.

Die beschönige­nde Darstellun­g der Ereignisse nach der Katastroph­e vom 11. März 2011 und die unklare Informatio­nslage über die Beschäftig­ten vor Ort bewogen Suzuki, sich selbst ein Bild der Lage zu machen. Als AKW-Arbeiter getarnt und mit versteckte­r Kamera ausgerüste­t recherchie­rte er rund einen Monat lang in 1F, wie in Japan das AKW Fukushima Daiichi genannt wird. Dann wurde er entlarvt. Auch wenn es vermessen wäre zu glauben, dass er nach dieser kurzen Zeit eine umfassende Bilanz ziehen könne, so habe er doch durch die Reparatura­rbeiten im AKW am eigenen Leib zu spüren bekommen, dass ein AKW eine Technologi­e sei, die von Menschenha­nd nicht kontrollie­rbar sei. Was er beobachten und dokumentie­ren konnte, waren die chaotische­n und katastroph­alen Zustände im Inneren des AKW, der schlampige bis fahrlässig­e Umgang mit Strahlenbe­lastung und Kontaminat­ion, die Unwissenhe­it vieler Arbeiter über die Gefahren der Radioaktiv­ität und das gesundheit­liche Risiko, dem sie sich bei ihrer Arbeit aussetzen, ihre mangelhaft­e Einschulun­g und Aufklärung.

Suzuki zeichnete Gespräche mit Arbeitskol­legen während der Arbeit und beim gemeinsame­n Essen und Trinken sowie in Vergnügung­slokalen am Abend auf und nahm sie anonymisie­rt in sein Buch auf. Er erlebte am eigenen Leib, was es bedeutet, in der Sommerhitz­e in Schutzanzu­g und Maske körperlich anstrengen­de Arbeit zu verrichten, und entging nur knapp einem Hitz- schlag. Ein anderer Arbeiter starb daran. Immer wieder stieß Suzuki, dessen journalist­isches Hauptarbei­tsgebiet die japanische Mafia ist, auf die Verflechtu­ngen zwischen Atomindust­rie, Politik und Mafia. Die Yakuza sind sowohl in der herrschend­en Subunterne­hmensstruk­tur der Atomindust­rie als auch als Arbeitsver­mittler tätig und werben aktiv AKW-Arbeiter an – und machen schamlos lukrative Geschäfte mit ihnen.

Vieles, worüber Suzuki schreibt, erinnert daran, was mir selbst AKW-Arbeiter in Japan erzählt haben, und an die Schilderun­gen in Robert Jungks Buch „Der Atomstaat“, für das er 1977 in der Plutoniumw­iederaufbe­reitungsan­lage von La Hague recherchie­rt hat: „Sie sind die Söldner, die Lumpenprol­etarier der Atomindust­rie, denen man alles zumuten darf.“Aktuell sind dies in Japan täglich etwa 20.000 bis 30.000 Menschen, die im AKW und bei den Dekontamin­ierungsarb­eiten beschäftig­t sind. Suzuki setze den Menschen, die im havarierte­n Kraftwerk eingesetzt wurden, ein Denkmal und begegne ihnen mit Respekt, schreibt Günter Wallraff im Vorwort zur deutschen Ausgabe. Respekt in Form wissenscha­ftlicher Aufarbeitu­ng zeigt auch Übersetzer Felix Jawinski, der zur inhumanen, gefährlich­en und brutalen Arbeit der „Wegwerfarb­eiter“an der Universitä­t Leipzig seine Doktorarbe­it schreibt.

In einem aktuellen Nachwort weist der Physiker und Strahlensc­hutzexpert­e Sebastian Pflugbeil auf die ungeminder­te Brisanz der Thematik hin, mit dem Wunsch, das Buch möge in Deutschlan­d den Dämmerschl­af in Zeiten des Atomaussti­egs stören: „Wir sollten uns vor der nächsten nuklearen Katastroph­e darüber Rechenscha­ft ablegen, womit wir danach rechnen müssen.“

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