Die Presse

Hamlet in der Türkei

-

Es hat lang gedauert, bis das Meisterwer­k „Die Haltlosen“des türkischen Autors Oguz˘ Atay ins Deutsche übersetzt wurde. In der Heimat Atays ist der Roman bereits 1972 erschienen. Aber erst nach dem frühen Tod des Autors 1977 wurde das Buch in seinem Land ein viel gelesenes Werk der literarisc­hen Moderne. Dank der Initiative des kleinen Berliner Verlags Binooki können nach 45 Jahren auch die hiesigen Leser dieses Prunkstück türkischer Literatur in einer alle Sprachregi­ster ziehenden Übersetzun­g staunend kennenlern­en.

Denn der Monumental­roman „Die Haltlosen“ist zunächst vor allem eines: ein schillernd­es Experiment­ierstück, das mit einer Reihe überliefer­ter Ansichten und Denkschule­n ebenso wie mit unterschie­dlichsten Themen, Gattungen, Sprachstil­en höchst artistisch jongliert. Eingewoben in den Text sind Essays, überliefer­te oder erfundene Legenden, Tagebuchau­szüge, Gedichtzei­len, historisch­e Narrative, verballhor­nte Geschichts­thesen, Satiren. Sprunghaft werden die Stil-Lagen gewechselt, der Bewusstsei­nsstrom wälzt sich über immer neue erzähleris­che Katarakte fort. Die Fantasien des Buchs pendeln zwischen Ausgelasse­nheit und Askese, Hedonismus und Kasteiung, Mirakel und Vanitas.

Inhaltlich versucht darin eine Generation, die mit den Errungensc­haften einer säkularen Freiheit in den 1960er-Jahren aufgewachs­en ist, sich Rechenscha­ft über ihre einstigen Hoffnungen, Träume und Ansprüche an das Leben abzulegen. Die Bilanz fällt ebenso vielfältig wie zwiespälti­g aus. Zentrale Handlungst­räger des Romans sind die beiden Freunde Selim und Turgut, und mit einem tragischen Auftakt beginnt das Buch: Turgut muss nach Jahren des Abschieds von der gemeinsame­n Jugendzeit erfahren, dass Selim sich das Leben genommen hat.

Diese Nachricht wirkt auf den längst mit Familie und Firma erfolgreic­h etablierte­n Bauingenie­ur Turgut Özben so erschütter­nd, dass bei ihm eine lange Zeit des Innehalten­s und der Selbstprüf­ung einsetzt. Er trachtet danach, sich die unzähligen Ansichten und Erinnerung­en, die von Selim überliefer­t sind, ins Gedächtnis zu rufen. Dabei hält er bald wie obsessiv eine innere Zwiesprach­e mit dem Verstorben­en und beginnt, sich schriftlic­h über dessen widersprüc­hliche Wesenszüge Klarheit zu verschaffe­n.

Er sucht die unterschie­dlichsten Freunde und Bekannten Selims auf, doch das alles hilft ihm nicht weiter: Die Gestalt des toten Freundes rückt immer ferner, wird immer unerklärli­cher. „Er war zerstreut, reizbar, schweigsam und launenhaft“, heißt es da über Selim. Die anderen wiederum sahen in ihm einen türkischen Hamlet, der an der Suche nach Wahrheit, nach einer Gewissheit über sich und die Außenwelt, verzwei- feln musste. In diesem Bild möchten die Freunde vor allem sich selbst gern wiedererke­nnen: das Genie Hamlet, umgeben von lauter Horatios, die dem Zweifelsüc­htigen beizustehe­n suchten.

Ekel und Langeweile haben Selim Isik offenbar nachhaltig von der Gesellscha­ft entfernt. Er, der Mathematik studiert hatte, wehrte sich als ein um Souveränit­ät ringendes Individuum dagegen, dass das Leben berechenba­r werden sollte. Kein kollektive­s Türkentum konnte ihm sein eigenständ­iges Bewusstsei­n ersetzen, das von intensiver europäisch­er Lektüre geprägt war. Um keinen Preis wollte er sich seinen Sinn für das Willkürlic­he des Geschehens abgewöhnen.

Als „unbeholfen und furchtsam“wird die besondere Spezies des „Haltlosen im Roman beschriebe­n: „Auf abschüssig­em oder stark ansteigend­em Gelände findet er keinen Halt und rutscht ab (wobei er nur allzu oft aus dem Gleichgewi­cht gerät)“. „Die Haltlosen“, das sind in dem Buch die

QClique einer juvenilen Boheme, die schwer ins Erwachsene­nleben gefunden hat.

Auch wenn in dieser weiträumig­en Suche nach der verlorenen Jugendzeit die Adoleszenz­probleme der politisch eher zurückhalt­enden türkischen 1968er-Generation im Vordergrun­d stehen, werden doch die Unterschie­de zur heutigen, mit Dünkel und Komplexen hochgepeit­schten Türkei überdeutli­ch. Das Land, so erfährt man hier, war einmal ganz anders, war neugierig, aufgeschlo­ssen, experiment­ierfreudig. Die türkischen Städte spiegelten das Licht des laizistisc­hen Liberalism­us wider, die Frauen waren frei, der westliche Einfluss pulsierte. Unter der gebildeten Jugend gab es eine Türkei, die längst in Europa angekommen war: Sinniert wird wörtlich über „Kierkegaar­d, Spengler, Kafka, Nietzsche“, über Hegel wird eine skurrile Paraphrase ausgeheckt, an Kant wird die Verzweiflu­ng eines schlichten Wahrheitss­uchers festgemach­t.

Vor allem aber war das Land meilenweit entfernt von jenem religiösen Fundamenta­lismus, der stets die Freiheit der Lebenden einschränk­en, sie in ein Korsett lebensfein­dlicher Vorschrift­en und Strafdrohu­ngen zwängen will. Das war bei den christlich­en Wiedertäuf­ern im 16. Jahrhunder­t nicht anders als gegenwärti­g in den Zwangsvisi­onen des politische­n Islam. Die Kritik hat darauf aufmerksam gemacht, dass auch Recep Tayyip Erdogan˘ im Istanbuler Armenviert­el aufgewachs­en ist. Fast visionär wirken da die Zeilen, die Atay über einen Typus wie ihn ersinnt: „Trotz all seiner späteren Erfolge war es ihm niemals möglich, diesen ersten Schandflec­k in seinem Leben auszuwisch­en. Die Knaben von damals – heute sind sie Fußballspi­eler geworden – sagen: ,In unserem Viertel hatte er keinen einzigen Ballkontak­t. Jetzt ist er Ministerpr­äsident.‘“

Im Prophetent­on wird in den „Haltlosen“, durch die gelegentli­ch ein „Albtraum vom Sultan“geistert, ein satirische­r Ausblick in die Zukunft gewagt: „Die Steinzeit, von der unsere Wissenscha­ftler noch nicht mit Sicherheit festlegen können, in wie vielen Jahren sie beginnt, wird für unser Volk ein goldenes Zeitalter sein. In der Steinzeit wird die Unterschei­dung von Bürger erster Klasse, Bürger zweiter Klasse und einfaches Volk aufgehoben. Diesbezügl­ich wird man strenge Maßnahmen ergreifen. Die Beklemmung in unseren Herzen und die Schwere in unseren Köpfen werden aufgehoben. Dann wird das tausendjäh­rige Sultanat anbrechen. Danach wird es noch weitere tausend Jahre andauern. Und noch mal tausend Jahre, und noch mal tausend Jahre.“

Oguz Atay Die Haltlosen Roman. Aus dem Türkischen von Johannes Neuner. 786 S., geb., € 30,70 (Binooki Verlag, Berlin)

Newspapers in German

Newspapers from Austria