„Das hat erst unser Tayyieschafft“
Reportage. Staatspräsident Erdo˘gan ist bis heute stolz auf seine einfache Herkunft. Seine früheren Nachbarn im Istanbuler Viertel Kasımpa¸sa feiern das Ergebnis des Referendums – doch es gibt auch leise Kritik.
An Bonbons denkt Rukiye Karaoglu,˘ wenn von Recep Tayyip Erdogan˘ die Rede ist, und ihre Augen leuchten auf. Erdogan˘ habe den Kindern hier immer Süßigkeiten gekauft, erinnert sich die 47-Jährige – allen Kindern in der Nachbarschaft. „Sie durften sich im Geschäft aussuchen, was sie wollten“, erzählt die Greißlerin, die von ihrer Ladentheke aus auf den Eingang des Hauses blickt, in dem der heutige Staatspräsident aufgewachsen ist und bis in die frühen Jahre seiner politischen Karriere gelebt hat. Rukiyes Schwester meint, dass damit alles begonnen habe – der Aufstieg des Buben von nebenan zum Oberbürgermeister, Ministerpräsidenten, Staatspräsidenten und jetzt zum mächtigsten Mann der Türkei seit Staatsgründer Atatürk. Das habe aber nicht erst mit den Bonbons begonnen, sagt Rukiye Karaoglu.˘ „Mein Vater sagt, der sei als Politiker geboren worden.“
Kasımpasa¸ heißt das bodenständige Istanbuler Wohnviertel über dem Goldenen Horn, in dem Erdogan˘ aufgewachsen ist. Sein Elternhaus steht ganz oben an einer steilen Gasse, so steil, dass selbst junge Menschen beim Aufstieg zu keuchen beginnen. Gesäumt ist die Gasse von vier- und fünfstöckigen Wohnblocks aus den 1950er-Jahren, von denen die meisten nach türkischer Sitte einen Namen tragen. „Arda“heißt das Haus, in dem Familie Erdogan˘ gelebt hat, ein trister Zehn-Parteien-Würfel, der mit Plastikmarkisen, Satellitenschüsseln, ein paar türkischen Fahnen und Wäsche vollgehängt ist. Erdogan˘ hat im dritten Stock gewohnt, zeigt Rukiye: erst links mit seinen Eltern, später rechts mit seiner neuen Ehefrau und dem ersten Kind.
Zucht und Ordnung
Bis heute pocht Staatspräsident Erdogan˘ stolz auf seine Herkunft aus diesen einfachen und bodenständigen Verhältnissen, auf seine Verwurzelung im Volk. In diesem Viertel verkaufte er als Jugendlicher auf der Straße Gebäck und Wasser, um Geld für seine Schulbücher zu verdienen; hier wurde er gezüchtigt und geformt. Vor einigen Jahren erzählte Erdogan,˘ wie er von einer Nachbarin einmal den Hintern versohlt bekam und darauf ein paar Flüche ausstieß – mit der Folge, dass er von seinem Vater zur Bestrafung an den Füßen mit dem Kopf nach unten aufgehängt wurde. Ein Onkel habe ihn dann gerettet.
Zucht und Ordnung spielen noch immer eine wichtige Rolle in Kasımpasa.¸ Dass Erdogan˘ als erste Amtshandlung nach dem gewonnenen Referendum die Todesstrafe wieder einführen will, findet Rukiyes Vater, Bayram, gut und richtig. Mehr als 80 Jahre alt ist Bayram Karaoglu,˘ hat einen langen grauen Bart und nur noch drei Zähne im Mund, doch trotz zitternder Hände hält er sich noch immer gerade und aufrecht. Die Türken seien die ewige Gewalt und das Blutvergießen müde, sagt der alte Greißler. Wie könne es sein, dass einer weiterleben dürfe, der Dutzende Menschen mit der Maschinenpistole niedermähte wie im Istanbuler Nachtclub Reina? Oder ein Busfahrer, der ein junges Mädchen vergewaltigt und niedersticht wie neulich in Antalya? Das gebe es in keinem Glauben, weder im Islam noch im Judentum noch im Christentum, dass solch ein Ungeheuer mit dem Leben davonkomme.
Greißler als Instanz sozialer Kontrolle
„Hallo, Schwester“, lispelt ein Kind, das in den Laden gehuscht kommt und sich von Rukiye einen Schlüssel aushändigen lässt. Eine ganze Reihe solcher Schlüssel hängen an Haken zwischen Keksen und Saftpackungen in den Regalen – es sind die Haus- und Wohnungsschlüssel der halben Nachbarschaft, die hier aufbewahrt werden. Beschriftet sind sie nicht: Rukiye weiß genau, welcher Schlüssel wem gehört und wem ge- geben werden darf. In einem Stadtviertel wie Kasımpasa¸ ist der Greißler mehr als nur ein Geschäft, er ist eine Institution: Nachrichtenzentrale, Schlüsseldienst und Versorgungsstützpunkt in einem – und oft auch eine Instanz der sozialen Kontrolle.
Die Jugend in diesem konservativen Klima hat Erdogan˘ geprägt. Bis heute versteht er sich als Anwalt der kleinen Leute, der frommen Anatolier, die sich in der Türkei über Jahrzehnte von den laizistischen Eliten unterdrückt gefühlt haben. Sie haben die frommmuslimische Bevölkerung Anatoliens zu Hinterwäldlern und Untertanen erklärt, obwohl die konservativen Türken zahlenmäßig in der Mehrheit sind, und leiteten daraus einen Führungsanspruch ab. Erdogans˘ Töchter durften wegen ihrer Kopftücher nicht in der Türkei studieren. Aus diesem Lebensgefühl bezieht Erdogan˘ bis heute den Anspruch, für die Unterdrückten zu kämpfen, auch wenn er längst in einer gepanzerten Limousine fährt und stets von Leibwächtern umringt ist.
Von Kasımpasa¸ zog Erdogan˘ einst aus, die Türkei zu verändern, ging in die Politik und stieg als islamistischer Nachwuchspolitiker auf. Mit 40 Jahren gelang ihm der Durchbruch, als er 1994 zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt wurde. Obwohl er damals mit islamistischen Sprüchen Schlagzeilen machte, brachte er die Stadt mit einer sehr pragmatischen Politik auf Vordermann und überzeugte auch viele Skeptiker – darunter auch seinen Nachbarn Bayram Karaoglu.˘
Der Glauben sei ihm wichtig, sagt der alte Mann, der früher Grundschullehrer war und die Greißlerei nach seiner Pensionierung eröffnet hat; deshalb habe er sich auch stets gut mit Erdogan˘ verstanden. Doch mit seiner Politik sei er anfangs nicht einverstanden gewesen, erinnert er sich an die früheren Jahre von Erdogans˘ Karriere: „Ich fand ihn zu polarisierend, zu spaltend.“Das habe sich aber geändert, als Erdogan˘ an die Macht kam. „Da hat er sich dieses Hemd ja ausgezogen und sich zum ganzen Volk bekannt.“
Vom Gefangenen zum Wahlsieger
Die säkular geprägte Justiz erkannte dieses Talent zum Politiker und steckte Erdogan˘ 1999 wegen einer Rede ins Gefängnis, die ihm vom Gericht als volksverhetzend ausgelegt wurde. Doch Erdogan˘ ließ sich nicht aufhalten, gründete nach seiner Entlassung 2001 die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und führte sie im nächsten Jahr zum Wahlsieg. Seitdem hat er die Türkei so verändert wie nur Atatürk vor ihm.
Für die Leute in Kasımpasa¸ ist er trotzdem einer der Ihren geblieben. Schon Tayyips Eltern haben hier eingekauft, erzählt Rukiye stolz. Konserven, Öl, Waschmittel, Limonade, Milch, Käse, Zigaretten, Toilettenpapier und Hunderte andere Artikel bieten die Karaoglus˘ in der winzigen Greißlerei von kaum 20 Quadratmetern feil – fast alles, was der Mensch im Alltag so braucht. Süßigkeiten sind noch immer ein wichtiger Posten im Sortiment: einzeln verpackte Kaugummis, Minischokoriegel für sechs Cent und allerlei bunte Bonbons.
Das Wechselgeld wird in der Schublade des alten Schreibtischs aufbewahrt, der als Ladentheke dient und selbst dann nicht abgeschlossen wird, wenn Rukiye das
Geschäft verlässt. Das tut sie ziemlich oft, um Kunden zu beliefern, die ihren Einkaufskorb nach Istanbuler Sitte an einer Schnur aus dem Fenster auf die Gasse herablassen, wo sie die bestellten Waren hineinlegt.
„So haben die Erdogans˘ das früher auch gemacht“, sagt Rukiye und zeigt auf Haus Arda. „Nur haben sie den Korb auf der anderen Seite heruntergelassen, denn damals war unser Geschäft dort noch drüben“, fügt sie hinzu und zeigt auf einen pink verkleideten Neubau, dem ihre Greißlerei vor ein paar Jahren weichen musste. Wie viele Menschen in Kasımpasa¸ haben Karaoglus˘ nicht sonderlich von dem wirtschaftlichen Aufschwung profitiert, den die Türkei unter der AKP erlebt hat – und wie viele Menschen in Kasımpasa¸ kreiden sie das dem Staatspräsidenten nicht an. Schließlich gebe es noch andere Werte im Leben, finden die Karaoglus,˘ deren Laden mit Koranversen in arabischer Kalligrafie geschmückt ist. Den Glauben frei ausüben zu können und das Kopftuch tragen zu dürfen, das sei für einen Muslim schließlich das Wichtigste, sagt Bayram Karaoglu.˘ „Das hat erst unser Tayyip geschafft.“
Freudenfeiern nach dem Referendum
Als Befreiung von langjähriger Unterdrückung durch die laizistische Elite empfanden viele Türken deshalb die Regierungsübernahme der AKP – viele fürchten noch immer, das Erreichte könnte ihnen wieder genommen werden. Deshalb explodiert in Kasımpasa¸ eine Siegesfeier, als das knappe, umstrittene Ergebnis der Volksabstimmung über die Einführung des Präsidialsystems am Sonntagabend endlich feststeht. Scharenweise eilen fahnenschwingende Menschen zum Goldenen Horn, wo die AKP vor schaukelnden Fischerbooten und der glitzernden Altstadtsilhouette eine Bühne aufgebaut hat und Ansprachen aus Ankara und Erdogans˘ Präsidentensitz am Bosporus, nur wenige Kilometer von Kasımpasa¸ entfernt, live überträgt.
Doch selbst in Kasımpasa¸ sind nicht alle auf der Seite des Staatspräsidenten. Auch unter seinen Nachbarn gebe es durchaus Kritik an Erdogan,˘ sagt Bayram Karaoglu.˘ „Hier gibt es solche, die für ihn sind, und solche, die dagegen sind“, sagt er. Das beeinträchtige die nachbarschaftlichen Beziehungen aber nicht, erzählt der Greißler. „Im Gegenteil, wir ziehen uns gegenseitig damit auf und scherzen darüber.“Ein wenig mehr von dieser Toleranz würde nun auch Erdogan˘ gut zu Gesicht stehen, meint der alte Mann. Angesichts des knappen Wahlergebnisses und der gespaltenen Gesellschaft würde der Staatspräsident gut daran tun, auf seine Gegner zuzugehen und sich wieder „weicher“und kompromissbereiter zu zeigen.
„Das wird er auch tun“, glaubt Bayram Karaoglu.˘ Im Haus Arda, so erinnert er sich, wohnte zur selben Zeit wie Erdogan˘ eine Familie, die seine Politik ablehnte und die laizistische CHP unterstützte. „Aber als bei der Frau nachts die Wehen einsetzten, war es Tayyip, der sie ins Krankenhaus gefahren hat.“Anders gehe es ja gar nicht. Schließlich lebten in der Türkei nicht nur gläubige Muslime, sondern auch Christen und weniger gläubige Menschen, die auch ein Recht auf ihre Lebensweise hätten. „Es soll uns doch allen gut gehen in diesem Land.“