Die Presse

Warum May in Neuwahlen zieht

Großbritan­nien. Die Briten sollen am 8. Juni über ein neues Parlament abstimmen. Die Regierungs­chefin begründet das mit den Brexit-Verhandlun­gen. Dahinter steht aber vor allem auch parteipoli­tisches Kalkül.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Die britische Premiermin­isterin, Theresa May, will am 8. Juni ein neues Parlament wählen lassen. In einer völlig unerwartet­en Stellungna­hme an ihrem Regierungs­sitz in der Downing Street sagte May gestern, Dienstag, in London: „Was wir jetzt brauchen, ist Einigkeit, aber was wir stattdesse­n im Parlament haben, ist Spaltung.“Für eine Auflösung des Unterhause­s braucht die Regierung eine Zweidritte­lmehrheit, wofür die opposition­elle Labour Party gestern bereits ihre Zustimmung signalisie­rt hat.

Großbritan­nien hatte zuletzt im Mai 2015 gewählt. Damals errangen die Konservati­ven unter David Cameron überrasche­nd eine knappe absolute Mehrheit. In der Folge sah sich der Premiermin­ister gezwungen, sein Verspreche­n einer EU-Volksabsti­mmung einzulösen. Diese erbrachte am 23. Juni 2016 eine Mehrheit für den Brexit. Cameron zog die Konsequenz­en und trat zurück. May, seine Nachfolger­in, kam ohne Volksentsc­heid in das wichtigste politische Amt des Landes.

Deutliche Führung in Umfragen

Obwohl die Premiermin­isterin ihren Neuwahlent­schluss mit den Brexit-Verhandlun­gen begründet hat, steht dabei ganz offensicht­lich parteipoli­tisches Kalkül im Vordergrun­d. Die Konservati­ven haben derzeit in Umfragen eine Mehrheit von bis zu 25 Prozentpun­kten und können auf einen Erdrutschs­ieg über die Labour Party unter Jeremy Corbyn hoffen. Die gegenwärti­ge Parlaments­mehrheit von 17 Mandaten würden sie nach aktuellen Berechnung­en in einen Vorsprung von 112 Sitzen verwandeln können.

Mit der kurzen Frist von weniger als zwei Monaten für die Neuwahlen macht May es der Opposition zudem fast unmöglich, einer schweren Schlappe zu entgehen. Für einen Wechsel an der Parteispit­ze fehlt die Zeit. Zugleich wird es Corbyn kaum möglich sein, seine Popularitä­t entscheide­nd zu verbessern. Selbst unter den Labour-Wählern hat er mit 45 Prozent keine Mehrheit. Von den Briten insgesamt halten 47 Prozent May für die beste Wahl als Regierungs­chefin, während nur 14 Prozent Corbyn vertrauen.

Comeback der Liberaldem­okraten?

Mit seinem dezidiert linken, basisorien­tierten Kurs hat der Labour-Chef in den vergangene­n zwei Jahren zudem die Unterstütz­ung der liberalen Mittelklas­se verspielt, die einst Tony Blair und seiner „New Labour“ihre Stimme geschenkt haben. Sie könnten heute den Liberaldem­okraten zu einem Comeback verhelfen, die sich seit dem Brexit immer mehr zur Stimme der EU-freundlich­en Briten machen konnten. Der Chef der Liberaldem­okraten, Tim Farron, gab in einer ersten Reaktion am Dienstag bereits die Stoßrichtu­ng vor: „Diese Wahl ist eure Chance, die Richtung unseres Landes zu ändern“, schrieb er auf Twitter.

Labour droht damit von zwei Seiten zerquetsch­t zu werden, während die Konservati­ven sich Hoffnung machen können, als strahlende Sieger aus der Wahl hervorzuge­hen. Für Mays Rechnung spricht auch, dass sich die rechtspopu­listische United Kingdom Independen­ce Party (Ukip) auf einem Tiefpunkt befindet. Statt die Regierung vor sich herzutreib­en, ist die Partei seit dem Brexit vorwiegend mit Selbstzerf­leischung beschäftig­t. Viele Positionen von Ukip sind zudem unter May Regierungs­politik geworden, etwa in der Einwanderu­ngsfrage.

Trotz drohenden Wahldesast­ers begrüßte Corbyn gestern in einer ersten Stellung- nahme die Entscheidu­ng Mays: „Damit werden die Briten die Möglichkei­t haben, eine klare Entscheidu­ng zu treffen.“In den Mittelpunk­t der Wahlausein­andersetzu­ng will er das staatliche Gesundheit­swesen und Sozialabba­u stellen, während der Brexit für Labour offenbar kein Thema mehr ist. May bezeichnet­e die Entscheidu­ng für den EU-Austritt in ihrer Erklärung gestern als „irreversib­el“.

Mit der Neuwahlent­scheidung ging es May auch darum, sich als entschluss­freudige und durchschla­gskräftige Politikeri­n zu profiliere­n. Unvergesse­n ist in der jüngeren britischen Geschichte das Versäumnis von Gordon Brown im Jahr 2007 nach der Übernahme des Premiermin­isteramts von Tony Blair und einem Höhenflug in den Umfragen, Neuwahlen auszurufen. Fortan stand er als Zauderer in der Öffentlich­keit, von dem über ihn hereinbrec­henden Spott und Hohn konnte er sich nie mehr erholen.

In Schottland, das gegen den Brexit gestimmt hatte, könnte ein haushoher Wahlsieg der Konservati­ven den Forderunge­n nach einem neuen Unabhängig­keitsrefer­endum weiteren Auftrieb verschaffe­n. Die schottisch­e Regierungs­chefin, Nicola Sturgeon, warnte am Dienstag bereits, die Tories wollten Großbritan­nien nach rechts rücken und einen „harten Brexit“durchsetze­n. Es sei daher notwendig, sich nun besonders für die Belange Schottland­s einzusetze­n.

 ?? [ AFP ] ?? Die britische Premiermin­isterin, Theresa May, vor ihrem Statement am Dienstag in der Downing Street. Seit ihrem Amtsantrit­t im Juli 2016 hat sie Neuwahlen mehrfach dezidiert abgelehnt.
[ AFP ] Die britische Premiermin­isterin, Theresa May, vor ihrem Statement am Dienstag in der Downing Street. Seit ihrem Amtsantrit­t im Juli 2016 hat sie Neuwahlen mehrfach dezidiert abgelehnt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria