Die vielen Leben des Konrad Adenauer
Deutschland. Vor 50 Jahren starb der Gründungskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Die band er – mit durchaus autoritären Zügen – an den Westen und zähmte ihren Nationalismus. Was er für Europa vorgedacht hat, ist noch heute aktuell.
Wann Konrad Adenauer für einen Teil der Deutschen zur Legende wurde, lässt sich nicht genau festmachen. War es nach dem Wagnis 1955, als er, der Antikommunist, nach Moskau geflogen war und dort die Heimkehr der letzten 10.000 deutschen Kriegsgefangenen erreicht hatte? Es gibt Bilder, die das nahelegen, die eine Frau zeigen, die sich vor Adenauer auf die Knie wirft wie vor einem Heiligen, der er nie war. Oder geschah es doch erst später in jenen Apriltagen vor 50 Jahren, als die Menschen im Kölner Dom Schlange vor dem Sarg des berühmten Sohnes der Stadt standen? Schon die Gästeliste der Trauerfeier – darunter Präsidenten der „freien Welt“, auch Israels früherer Ministerpräsident David BenGurion – bezeugt Adenauers Lebenswerk, nämlich Deutschland zurückgeführt zu haben in die Zivilisation.
Aber es gibt eben auch das andere Bild Adenauers. Nun, zum 50. Todestag, hat „Der Spiegel“über den „Alten aus Rhöndorf“berichtet, was für jeden Staatssekretär zum Rücktritt reichen würde, ja müsste: Der greise Kanzler soll den Bundesnachrichtendienst (BND) als private Spionageeinheit missbraucht und auf Gegner wie den populären SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt gehetzt haben. Die Deutschen, so scheint es, nehmen die Enthüllung mit Achselzucken hin. Polarisiert hat Adenauer ja immer. Dass der Kanzler die Bevölkerung dem Bericht nach „entsetzlich dumm“nannte, sorgt kaum für erregte Debatten. Es passt ins Bild Adenauers, der meinte, die Deutschen zu Demokratie und Freiheit erziehen zu müssen.
Noch grassierte Antisemitismus
Man muss Adenauers Wirken aber immer auch in seiner Zeit denken. Deutschland liegt in Trümmern, zunächst ganz bildlich, wie die Ruinen in seiner Geburtsstadt Köln zeigen. Aber auch innerlich. Es ist besetzt, bitterarm, ohne Identität. Nach außen und innen zimmert Adenauer nun am Bild eines neuen Deutschen, den es so mehrheitlich noch gar nicht gab. Noch grassierte Antisemitismus, noch lagen braune Schatten über dem Land.
Es heißt, als Adenauer im Alter von 73 Jahren Kanzler wurde, hatte er ein ganzes Leben hinter sich. Eine Untertreibung. Es waren drei Leben. Mindestens. Wer sich Adenauer nähern will, kann im damals preußischen Köln suchen. Dort wächst der Sohn eines streng katholischen Kanzleirats auf. Der Vater ist hart zu sich und der Welt, ein Mann, der dem schüchternen Sohn Aufstiegswillen und Sittenstrenge einimpft, wohl auch einprügelt. Als Jurist schwört der junge Konrad „dem Kaiser die Treue“, organisiert als aufstrebender Kölner Oberbürgermeister die Lebensmittelversorgung einer im Ersten Weltkrieg darbenden Stadt. Nach der Weimarer Republik senkt sich im dritten Akt die Herrschaft der Nazis über Deutschland und Adenauer. Der rheinische Katholik lässt standhaft Hakenkreuzfahnen abhängen. Der NS-Terror zwingt ihn zur Flucht hinter Klostermauern (1933–34) und in eine Zelle (44).
Von alledem erzählen die Falten im Gesicht des hageren Manns mit der hohen Stirn und dem nach hinten gekämmten schütteren Haar, als er 1949 erster Kanzler einer unsouveränen Republik wird. Mit einem Trick. Adenauer mimt den greisen Übergangskandidaten, dem die Ärzte erklärt hätten, „zwei, drei Jahre“könne er das Amt wohl führen. Es wurden 14. Eine Episode, in der sich der gewiefte Machtmensch andeutet, der Adenauer eben auch war: Ein Mann, der politische Gegner, allen voran die ihm verhassten Sozialisten, böse diffamierte und der etwa in der „Spiegel“-Affäre 1962 ein Medienverständnis an den Tag legte, das schon damals gestrig war und heute wieder seltsam modern wird. Das sind die Schatten über seiner Ära.
„Europa muss groß sein“
Unter Adenauer wird aber auch der Grundriss eines Deutschland gezeichnet, wie er noch 2017 Bestand hat. Was heute Gewissheit ist, musste damals erstritten werden: die Rolle der Freiheit des Individuums; soziale Marktwirtschaft; die Bindung an den Westen, die Adenauer zur Empörung der Sozialisten notfalls auf Kosten der Wiedervereinigung vorantrieb. Ein neutrales Deutschland, so sah er es, wäre leichte Beute für das totalitäre Moskau. Lieber eine deutsche Hälfte in Frei- heit als gar keine. Adenauer suchte die Aussöhnung mit Frankreich, sie wurde klug verankert in einer von Robert Schuman erdachten Montanunion. Diese Keimzelle der EU sollte den Nationalismus zähmen, den Nachbarn die Furcht nehmen. Der greise Kanzler war Vordenker, er träumte von einer „politischen Union“, als viele in nationalstaatlichem Denken verharrten. Das Scheitern einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft (wie sie wieder diskutiert wird) nannte er einen schwarzen Tag für den Kontinent. 1967 formulierte Adenauer einen Satz, der 2017 passen würde: „Europa muss groß sein, muss Kraft haben, um seine Interessen in der Weltpolitik zur Geltung bringen zu können.“
Heute wird Angela Merkel den Rhöndorfer in einer Rede würdigen. Wie einst Adenauer strebt die Kanzlerin eine dritte Wiederwahl an, und wie der legendäre CDU-Chef, so unken manche, droht Merkel den idealen Zeitpunkt für ihren Abschied zu verpassen.