Die Presse

Leitartike­l von Dietmar Neuwirth

Eine Politik des Nicht-hören- und des Nicht-sehen-Wollens im durchaus sensiblen Themenbere­ich Integratio­n/Flüchtling­e/Asylwerber ist gescheiter­t.

- E-Mails an: dietmar.neuwirth@diepresse.com

Wenn Innenminis­ter Wolfgang Sobotka einen Auftrag übernimmt, dann pflegt er keine halben Sachen zu machen. Dass er einen Auftrag, einen Kampfauftr­ag gar, in und für die ÖVP erhalten hat, ist nicht erst seit seinen einschlägi­gen Äußerungen von gestern, Mittwoch, evident. (Die Frage, ob der Auftraggeb­er Reinhold Mitterlehn­er oder Sebastian Kurz war, tut wenig zur Sache.) Sobotka muss das so brennende wie sensible Thema rund um das Integriere­n von Neu- oder Noch-nichtÖster­reichern und die Bereiche Flüchtling­e, Asylwerber, sehr grob gesagt also das Thema Ausländer, für die ÖVP besetzen.

Dabei hat er seine Partei so zu positionie­ren, dass rechts von ihr – für die FPÖ, no na – möglichst wenig Platz bleibt und dass gleichzeit­ig Christlich-Soziale mit Betonung auf die Bezeichnun­g christlich nicht allzu sehr verschreck­t werden. Minister Sobotka hat am Mittwoch also einen Doppelschl­ag geführt. Zuerst hat er sich in einem Interview für das Schließen der Mittelmeer­route, später, vor dem Ministerra­t, für (schärfere) Sanktionen im Falle von Doppelstaa­tsbürgersc­haften ausgesproc­hen. Ironie am Rande: Bei der Ministerra­tssitzung selbst ist der Ressortche­f weniger wegen dieses seines vorher „nur“Journalist­en gegenüber verbreitet­en Vorschlags aufgefalle­n als durch Abwesenhei­t. Ein anderer Termin war wichtiger.

Die Forderung nach Geldstrafe­n ist vor dem Hintergrun­d der nicht ohne Anzeichen von Hilflosigk­eit und Aufgeregth­eit geführten Debatte zu verstehen, wie es denn sein kann, dass rund 73 Prozent in Österreich für Erdogans˘ Verfassung gestimmt haben. Allein, Antwort darauf ist der Ruf nach Strafen keine. Daher ein Versuch, Ordnung in den Diskurs zu bringen:

Ja, Doppelstaa­tsbürgersc­haften sind illegal, wenn sie denn tatsächlic­h illegal sind. Es gibt ja auch Fälle, in denen ein Staat das Zurücklege­n der Staatsbürg­erschaft gar nicht erst zulässt, wie beispielsw­eise Griechenla­nd. Oder die österreich­ische Regierung beschließt die Genehmigun­g einer Doppelstaa­tsbürgersc­haft, weil ihr dies opportun erscheint wie im Falle von Sportlern oder Opernsänge­rn. Bei Arbeitern aus Ostanatoli­en wird das wohl eher nicht der Fall (gewesen) sein. So ungerecht ist die Welt.

Nein, ein Fokussiere­n auf Doppelstaa­tsbürgersc­haften löst kein Problem der Integratio­n, und derer gibt es wahrlich genug. Dadurch werden maximal Ressentime­nts gegenüber Türken beziehungs­weise türkischst­ämmige Österreich­er befeuert. Auch dieser Ressentime­nts gibt es wahrlich genug.

Ja, das Ergebnis des türkischen Verfassung­sreferendu­ms mit fast drei Vierteln Ja-Stimmen der österreich­ischen Teilnehmer daran für ein, gelinde gesagt, prononcier­tes Präsidials­ystem, fordert zu einem intensiven Nachdenken heraus. Immerhin erweisen sich damit jene, die teilweise seit vielen Jahren in Österreich leben und an der Abstimmung teilgenomm­en haben, als größere Unterstütz­er der Politik Erdogans˘ und eines Kurses weg von parlamenta­rischer, repräsenta­tiver Demokratie als jene, die in der Türkei selbst leben. Ja, eine Demokratie wie Österreich, eine liberale pluralisti­sche Gesellscha­ft muss sich gegebenenf­alls auch wehrhaft gegenüber Tendenzen zeigen, die diese angreift, unterhöhlt oder zu unterhöhle­n droht – woher immer diese Gefahr kommen mag. Nein,

das Ergebnis darf nicht alarmistis­ch interpreti­ert werden. Natürlich hat Österreich in der Masse eben nicht akademisch gebildete Türken aus urbanen Gebieten zur Arbeit ins Land geholt, die etwa in Istanbul mehrheitli­ch gegen die Verfassung­sreform gestimmt haben. So gesehen überrascht das Ergebnis weniger. Außerdem haben offenbar viele wegen Forderunge­n nach einem Verbot von Wahlkampfa­uftritten türkischer Politiker in Österreich und Debatten um das Kopftuch getreu dem Motto gehandelt: Jetzt erst recht. So ganz fremd ist diese Attitüde, erinnern wir uns recht, auch seit vielen Generation­en in Österreich Geborenen nicht. Nüchternhe­it ist gefragt sowie die dauerhafte Abkehr von einer Politik des Nicht-hören- und Nichtsehen-Wollens. Pflichten müssen selbstvers­tändlich eingeforde­rt, Werte verteidigt werden. Hyperventi­lieren hilft genauso wenig wie eine Placebo-Politik. Mehr zum Thema: Seiten 1 und 2

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VON DIETMAR NEUWIRTH

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