Die Presse

„Haben in Deutschlan­d sehr konservati­ve Türken mit AKP-Nähe“

Interview. Der renommiert­e Türkei-Experte Haci-Halil Uslucan erklärt, warum eine so große Anzahl der Türken in Deutschlan­d für eine türkische Verfassung­sänderung gestimmt hat. Der Professor ist der Meinung, dass Integratio­n erst nach vier bis sechs Genera

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Die Presse: Hat Sie das Wahlergebn­is der Türkeistäm­migen in Deutschlan­d beim Verfassung­sreferendu­m überrascht? Haci-Halil Uslucan: Nein, 2015 hatten 60 Prozent die AKP gewählt.

Es ist doch ein Unterschie­d, für eine Partei zu stimmen oder wie jetzt für die Aushöhlung der parlamenta­rischen Demokratie. Von Inhalten war im Wahlkampf gar nicht die Rede. Es ging nur darum: Bist du für oder gegen Erdogan,˘ für oder gegen die Türkei?

Wie darf man sich den deutschtür­kischen Erdogan-˘Wähler denn vorstellen? Wir haben in Deutschlan­d eine starke konservati­ve Gruppe mit AKP-Nähe aus der ersten Migrations­welle. Sie kamen in den 1960er- und 1970er-Jahren als Gastarbeit­er.

Fühlen sich die Türkeistäm­migen mehrheitli­ch als Deutsche oder als Türken? Ab 2010/11, dem Höhepunkt der Sarrazin- Debatte, gab es einen starken Anstieg der Verbundenh­eit mit der Türkei, von 35 Prozent auf fast 50, die Verbundenh­eit mit Deutschlan­d fiel unter 20 Prozent. Weitere 20 Prozent fühlten sich beiden Ländern verbunden, der Rest keinem. Seit 2010 ist die Integratio­nsdebatte nicht auf Zuwanderer, sondern auf Türkeistäm­mige fokussiert, und innerhalb dieser Gruppe auf Muslime, also auf jene Wählerschi­chten, in der die AKP mobilisier­t. Hinzu kommt, dass die Türkei politisch und wirtschaft­lich bedeutende­r geworden ist – das stärkt die Attraktion, sich als „Türke“zu fühlen. Vorausgese­tzt, dass diese Menschen nicht das Gefühl haben, in Deutschlan­d Teil eines starken Kollektivs zu sein.

Also soll wieder die Mehrheitsg­esellschaf­t schuld sein? Es geht um emotionale Befindlich­keiten. Und um Visibilitä­t. Man erkennt einen Türkischst­ämmigen, bei einem Polen mit hellerer Hautfarbe ist das nicht so. Aus der Migrations­forschung wissen wir außerdem, dass große Gruppen deutlich langsamere Integratio­nsprozesse haben als kleine: Einer, der heute aus der Türkei nach Berlin-Kreuzberg kommt, kann jahrelang auch ohne Deutschken­ntnisse relativ gut hier überleben. In der ersten Phase sind solche Netzwerke nicht schlecht, sie stabilisie­ren. Aber langfristi­g braucht es eine Durchmisch­ung, ein Andocken an mehrheitsg­esellschaf­tliche Institutio­nen, den Aufbau von kulturelle­m Kapital, also von Freundscha­ften und Vereinszug­ehörigkeit. Aber dazu gehört das Signal von der Mehrheitsg­esellschaf­t: Ihr gehört dazu.

Der türkeistäm­mige Fußballsta­r Mesut Özil gilt als eine Integratio­nsfigur. Er sagte in einem Interview, dass er sich konzentrie­ren müsse, wenn er Deutsch spricht. Özil ist die dritte Generation. Im Sport funktionie­rt die Integratio­n gut. Aber im Bildungsbe­reich braucht es unterstütz­ende Eltern. Ein Großteil der ersten, zweiten Generation kam aber mit sehr niedriger Bildung. Das hängt damit zusammen, dass die Türkei bis 1998 nur eine fünfjährig­e Schulpflic­ht hatte, heute sind es zwölf Jahre. Man darf nicht glauben, dass das alles innerhalb einer Generation behoben ist. Übrigens liegen die Italiener in der Bildungsst­atistik ebenfalls hinten: In den letzten zehn, 15 Jahren schneiden sie genauso schlecht ab. Über deren Integratio­n wird aber kaum gesprochen.

Das Zitat von Özil ist doch auch deshalb bemerkensw­ert, weil Sprache ein Schlüssel zu einer gelungenen Integratio­n ist. Die Forschung zeigt, dass die Integratio­n vier bis sechs Generation­en dauert. Wann sind polnische Zuwanderer Teil der US-Gesellscha­ft geworden? Nach drei Generation­en.

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